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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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aus Meeresluft, Gewürzen und menschlichem Schweiß. Sie schüttelt ihre Schläfrigkeit ab, während sie in der chaotischen Warteschlange vor dem Einreiseschalter hin und her geschubst wird. Ehe sie das Gepäckkarussell erreichen, umdrängen sie mehrere Männer, zupfen ihnen an der Kleidung und reden schnell auf sie ein. Somer spürt Panik in sich aufsteigen, folgt dann Krishnan durch das Gewimmel, sieht zu, wie er ihnen seelenruhig inmitten der Leute und der Warteschlangen einen Weg bahnt, anscheinend mithilfe von kleinen Summen Bestechungsgeld.
    Als sie endlich draußen sind, legt sich die feuchtheiße Luft auf Somers nackte Schultern wie ein lästiges Umhängetuch. Vor dem Flughafengebäude herrscht ein Chaos von laut hupenden Autos. Sie und Krishnan ergattern einklappriges Taxi und lassen sich auf die Rückbank aus rissigem Vinyl sinken. Somer sieht, wie ihr Mann das Fenster per Hand runterkurbelt, und tut es ihm gleich. Krishnan holt tief Luft und wendet sich ihr mit einem Lächeln zu. »Bombay«, sagt er strahlend. »In all seiner Schönheit. Wie findest du’s?«
    Somer nickt bloß. Krishnan macht sie während der Fahrt auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam – eine prächtige Moschee in der Ferne, eine berühmte Pferderennbahn. Aber sie kann nichts anderes sehen als heruntergekommene Gebäude und verdreckte Straßen, die vor ihrem Fenster wie eine endlose Filmspule ablaufen. Als sie das erste Mal im Stau stehen, umzingelt ein Schwarm zerlumpter Bettler das Taxi, und einige strecken die Hände durch Somers offenes Fenster, bis Krishnan sich hinüberbeugt und es hochkurbelt.
    »Beachte sie einfach nicht. Schau nicht hin, dann verschwinden sie von allein«, sagt er und blickt stur geradeaus.
    Somer sieht die Frau an, die draußen vor dem Wagen steht, ein mageres Baby auf der Hüfte. Sie deutet sich wortlos mit den Fingern auf den Mund, höchstens dreißig Zentimeter von Somer entfernt. Sie kann den Hunger und die Verzweiflung der Mutter förmlich spüren, sogar durch die Scheibe hindurch. Sie zwingt sich, den Blick abzuwenden.
    »Daran gewöhnst du dich noch.« Er nimmt ihre Hand. »Keine Sorge, wir sind fast da.«
    Somer brennt vor Neugier, das Haus zu sehen, in dem Krishnan aufgewachsen ist. Er hat ihr nie viel von seiner Familie erzählt, sodass sie nur das Wesentliche kennt: Sein Vater ist ein angesehener Arzt, seine Mutter gibt private Nachhilfestunden und engagiert sich für wohltätigeZwecke. Sie hat sie vor sechs Jahren kennengelernt, als sie zur Hochzeit nach San Francisco gekommen waren, und danach nie wieder gesehen.
    Seine Eltern wohnten eine volle Woche bei ihnen, doch wegen der Hochzeitsvorbereitungen und weil sie beide weiter arbeiten mussten, war es eine hektische Zeit. Wenn Somer mal Gelegenheit hatte, mit ihnen zu sprechen, drehte sich die Unterhaltung um das Wetter (warum es im Sommer so kalt war), die Hochzeitspläne (eine zwanglose Feier für vierzig Gäste im Golden Gate Park) und wo man in der Nähe vegetarisches Essen bekommen konnte (die Pizzeria und die Bäckerei). Jeden Morgen kochte Kris’ Mutter auf dem Herd Tee und nahm den spärlichen Inhalt der Küchenschränke in Augenschein. Sein Vater studierte die Zeitung so akribisch, als würde er jedes gedruckte Wort lesen wollen. Somer war jeden Morgen erleichtert, wenn auch mit schlechtem Gewissen, dass sie zur Arbeit gehen konnte. Irgendwann fragte sie Kris, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei. Sie hatte das Gefühl, als ob seine Eltern irgendwas störte, sie aber nicht mit der Sprache rausrücken wollten.
    »Sie sind vieles hier nicht gewohnt«, sagte er. »Sie haben ein bisschen die Orientierung verloren.«
    Jetzt, wo sie zum Fenster hinaus auf die Skyline von Bombay blickt, fragt sie sich, ob es ihr nicht genauso gehen wird.

13
Große Ambitionen
    Bombay, Indien – 1985
Sarla

    Sarla Thakkar steht vor dem Spiegel und bindet sich das hüftlange Haar wie üblich zu einem Knoten zusammen, den sie dann feststeckt. Sie berührt leicht die grauen Strähnen an ihrer Schläfe. Tja, warum nicht? Ich bin schließlich Großmutter. Sie nimmt den frisch gebügelten gelben Sari vom Bett und wickelt ihn sich gekonnt um den Körper, bis die bestickte pinkfarbene Borte perfekt über ihrer linken Schulter liegt. Sie beugt sich näher an den Spiegel und tupft sich ein kleines goldgelbes bindi genau auf die Mitte der Stirn. Nachdem sie Lippenstift aufgelegt hat, tritt sie zurück, um sich zu begutachten, und denkt, dass sie Devesh sagen muss, sie soll den

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