Geheime Tochter
lächeln, denkt aber bereits an die nächste Nacht, in der Kris Dienst hat. In Indien kam ihr das alles machbar vor, als KrishnansFamilie da war, die ihr half, für Asha Essen zu machen, sie zu baden, sie zu trösten, wenn sie weinte. Aber jetzt, nachdem sie so lange versucht hat, Mutter zu werden, weiß sie nicht, wie sie eine sein soll. Somer fürchtet, diesen Instinkt vielleicht niemals zu spüren.
Als sie wieder arbeiten geht, rechnet sie damit, dass es besser wird, doch stattdessen entstehen nur neue Probleme. Sobald sie wieder auf der Kinderstation ist, sieht Somer Asha nach Feierabend nur eine Stunde am Tag. Sie ist zwar erleichtert, sich endlich wieder in etwas kompetent zu fühlen, doch es löst widerstrebende Gefühle in ihr aus, als sie sieht, wie sehr Asha schon bald an der jungen irischen Kinderfrau hängt, die sie engagiert haben, sich an sie klammert, wenn Somer abends nach Hause kommt. Auf der Arbeit muss Somer bei jeder kleinen Patientin in Ashas Alter an ihr strahlendes Lächeln und ihren wackeligen Gang denken. Die Mütter und Kinder, die zu ihr in die Sprechstunde kommen, wirken so ungezwungen im Umgang miteinander. Somer fragt sich, ob die biologische Verbindung das Vertrauen zwischen ihnen verstärkt oder ob es an der Zeit liegt, die sie miteinander verbringen können, die Zeit, in der Somer arbeiten geht. Würde sie besser wissen, was gut für Asha ist, wenn sie ein Fleisch und Blut wären? Würde Asha besser auf Somer reagieren, wenn sie nicht so anders aussähe als alle, die sie in ihrem kurzen Leben kennengelernt hat?
Krishnan kann ihre Sorgen nicht verstehen, und inzwischen erwartet Somer das auch nicht mehr von ihm. Der Gedanke, dass sie nach allem, was sie durchgemacht hat, scheitern könnte, ist ihr unerträglich. Sie liebt ihre Arbeit nach wie vor, aber sie fürchtet, zu viel in ihren Beruf zu investieren, etwas in den Vordergrund zu stellen, von dem sie weiß, dass es ihr niemals genügen wird.
Teil 2
20
Shakti
Dahanu, Indien – 1990
Jasu und Kavita
Jasu sieht sie im Schneidersitz vor dem Feuer sitzen und bleibt stehen, um sie aus der Entfernung zu beobachten. Kavita wirft das roti in die gusseiserne Pfanne auf der Glut. Sie blickt ernst, ist ganz vertieft in die tägliche Aufgabe, das Essen für die ganze Familie zuzubereiten. Jasu hat es lieber, wenn sie lächelt, und betrachtet es als persönliche Herausforderung, sie irgendwie von ihrer Arbeit abzulenken. Er geht auf sie zu und fängt an zu pfeifen, ahmt den frühmorgendlichen Gesang eines Vogels nach. »Da ist ja mein kleiner chakli «, sagt er mit einem verspielten Lächeln. Kleiner Vogel . Normalerweise kann er sich darauf verlassen, dass dieser Kosename ihr ein Lächeln abringt.
»Das Essen ist bald fertig. Hungrig?«, fragt sie.
» Hahnji , halb verhungert«, sagt er und tätschelt sich den Bauch. »Was gibt’s denn?« Er hebt den Deckel von einem Topf.
» Khobi-bhaji, roti, dal «, rattert sie herunter und greift nach dem Löffel, um den Kohl umzurühren.
»Schon wieder khobi ?«, sagt er. »Zum Glück ist meine Frau eine so gute Köchin, dass ihr Essen auch dann schmeckt, wenn es mehrere Tage hintereinander Kohl gibt. Bhagwan , ich vermisse ringan, bhinda, tindora …«
» Hahnji . Ich auch. Vielleicht nach der Ernte.«
» Chakli «, sagt er und senkt die Stimme, damit seine Eltern im Zimmer nebenan ihn nicht hören. »Die Ernte wird nicht gut ausfallen. Wir können von Glück sagen, wenn wir dieses Jahr irgendwie über die Runden kommen.« Jasu ist bemüht, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Die Ernteerträge und Marktpreise haben sich seit ihrer Heirat Jahr um Jahr verschlechtert. Er konnte sich seine Erntehelfer nicht länger leisten, weshalb Kavita und Vijay ihm in den letzten beiden Jahren bei der Feldarbeit geholfen haben.
»Vijay!«, ruft Kavita durch den offenen Torbogen nach draußen, wo ihr fünfjähriger Sohn mit seinen Cousins spielt. »Wir essen gleich. Komm und wasch dir die Hände.«
»Kavi.« Jasu spürt, wie ihm schwer ums Herz wird. »Mir fällt keine andere Lösung ein. Wir müssen fort von hier.« Er reibt sich die Stirn, als könne er die Falten dort zum Verschwinden bringen. »In der Stadt wird es uns besser gehen. Da kann ich eine gute Arbeit finden. Und du musst nicht mehr so schuften wie hier. Tag und Nacht.«
»Die Arbeit macht mir nichts aus, Jasu. Wenn ich dir damit helfen kann, uns … dann macht es mir nichts aus.«
»Aber mir macht es was aus«, sagt er. »In
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