Geheime Tochter
Bombay müssen wir uns nicht jeden Tag abschinden. Stell dir doch bloß mal vor, Kavi, du kannst kochen oder nähen – Schluss mit der Feldarbeit, Schluss mit … dem hier!« Er nimmt ihre dünnen Finger und fährt mit den Daumen über die schwieligen Spitzen und zerkratzten Knöchel, ihre verwitterten Hände ein sichtbarer Beweis seines Scheiterns.
»Aber wir finden doch bestimmt eine andere Lösung. Wir könnten Baumwolle anpflanzen, wie dein Cousin.«
Er senkt den Blick und schüttelt den Kopf. Wie kann er es ihr begreiflich machen? Jede Zelle in seinem Körper sagt ihm, dass sie ihr Dorf jetzt verlassen müssen, das einzige Zuhause, das sie beide je gekannt haben. Sie müssen gehen – fort von den Feldern, die sein Versagen als Mann erkennen lassen, von der Familie, der er einfach nicht vergeben kann, von diesem Haus, das sie mit seinen Eltern bewohnen, dem Haus seiner Kindheit, in dem er sich eingesperrt fühlt. Bombay lockt ihn wie ein glitzernder Edelstein, verheißt ein besseres Leben für ihn und Kavita und vor allem für ihren Sohn.
»Kavi, in der Stadt ist es anders als hier, wo alle immer nur knapp über die Runden kommen. Ich habe gehört, da kommen Tag für Tag Lastwagenladungen mit neuen Menschen an, Menschen wie wir. Zu Hunderten, und für alle gibt es Wohnung und Arbeit und Essen!«
»Aber alle, die wir kennen, leben hier . Bombay ist nicht unser Zuhause. Was bringt es uns, wenn wir alles Geld der Welt haben, aber keine Familie?« Kavita fängt an zu weinen.
Er rückt näher zu ihr. »Wir werden unsere Familie haben. Dich und mich und Vijay. Er kann auf eine gute Schule gehen, eine richtige Schule. Er wird nicht wie wir schuften müssen oder so leben wie hier …« Jasu deutet mit den Händen auf das bescheidene Haus, das sie mit seiner Familie teilen. »Er kann einen Schulabschluss machen und sogar in einem Büro arbeiten. Kannst du dir das vorstellen? Unser kleiner Vijay in einem Büro!« Er will sie jetzt unbedingt zum Lächeln bringen. Bitte, Kavi . Er nimmt ihr Gesicht in beide Hände und wischt ihr mit seinen rauen Daumen die Tränen ab. » Guten Morgen, möchten Sie gern chai , Sahib Sir? «, sagt Jasu scherzhaft und zieht ihre Mundwinkel mit Zeigefinger und Daumen sanft zu einem widerwilligen Lächeln auseinander.
»Wie soll er damit fertigwerden, dass er in der Stadt niemanden kennt?«, sagt sie. »Hier kümmert sich jeder umihn. Das ganze Dorf ist seine Familie. Wir hatten das als Kinder. Ich möchte, dass er das auch hat.«
»Ich möchte, dass er mehr hat, Kavi. Unsere Familie wird immer hier sein, sie werden ihn immer lieben.«
»Und was ist mit uns? In der Stadt haben wir niemanden, der uns helfen kann, wenn irgendwas passiert.« Ihre Stimme überschlägt sich vor Erregung. »Hier haben wir wenigstens Hilfe, wenn die Ernte schlecht ausfällt oder Vijay krank ist.«
»Wir wären nicht die Ersten, die in die Stadt ziehen.« Jasu umschließt ihre kleinen Hände mit seinen. »Der Nachbar von meinem Cousin zum Beispiel oder der Zuckerrohrbauer – an die werden wir uns wenden. Kavi, ich will doch bloß ein besseres Leben für uns …« Mit diesem Gedanken verstummt er und presst die Stirn auf ihre fest gefalteten Hände. Dann kommt ihm die Erleuchtung. Auf einmal weiß er, was er zu ihr sagen muss, dieser Frau, die in erster Linie Mutter ist. Er blickt unvermittelt auf. »Überleg doch mal, was deine Eltern alles für dich getan haben, wie viel sie geopfert haben. Sollten wir das nicht auch für unseren Sohn tun? Hat Vijay nicht das Beste verdient? Das ist unsere Elternpflicht. Jetzt sind wir an der Reihe, chakli .«
Bei seinen Worten erröten ihre Wangen vor Scham, und sie fängt wieder an zu weinen.
»Stell es dir doch bloß mal vor – ja, chakli? Ein neues Leben für uns? Vertrau mir, Kavi.«
Seine Augen sind voller Hoffnung und hell. Ihre schimmern vor Tränen.
Als Kavita ihren Eltern beichtet, dass sie und Jasu nach Bombay ziehen, kriegt sie die Worte kaum heraus, ohne weinen zu müssen. » Ba, Bapu. « Kavita drückt das Gesichtin den Schoß ihrer Mutter. »Wie kann ich euch verlassen? Was wird aus mir werden in der großen Stadt?« Sie erinnert sich an Bombay: das heiße Pflaster unter ihren Füßen, die herablassenden Blicke der Leute.
Ihre Mutter wischt sich die Augen, räuspert sich und schließt Kavita dann in die Arme. » Beti , du schaffst das. Jasu ist ein guter Ehemann. Er wird schon seine Gründe haben.«
»Ein guter Ehemann? Er reißt mich von euch weg, von
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