Geheime Tochter
ineinander verhaken.«
»Wie du willst, meine Liebe. Das liegt ganz bei dir.« Sarla beugt sich mit dem zweiten Päckchen vor, hält es Somer mit beiden Händen hin. »Das hier ist für dich, meine Liebe.«
Somers Gesicht verrät Überraschung, die gleich darauf einem sich langsam ausbreitenden Lächeln weicht. »Oh, vielen Dank.«
»Ich hoffe, es gefällt dir. Ich hab es selbst ausgesucht«, sagt Sarla. »Ich kenne deinen Geschmack nicht …« Sie hält einen Moment inne, während Somer aus der Schachtel ein schimmerndes Seidenschultertuch in einem leuchtenden Pfauengrün nimmt. Der Saum ist reich in Gold und Aquamarinblau bestickt. »Wenn eine Schwiegertochter Mutter wird, ist es bei uns Tradition, ihr einen besonderen Sari zu schenken. Ich weiß, dass du wenig Verwendung für einen Sari hast, deshalb hab ich mich stattdessen für ein Schultertuch entschieden. Das hier hat mich an deine hübschen Augen erinnert.« Sie registriert, dass ein Ausdruck über das Gesicht ihres Sohnes huscht. Enttäuschung? Er hat doch gesagt, ich soll nicht erwarten, dass die Frau indische Kleidung trägt, oder nicht?
»Danke. Es ist wunderschön.« Somer drückt sich den Seidenstoff an die Brust.
Sarla lehnt sich zurück, zufrieden mit sich und mit dem Verlauf des Abends. Manchmal, so hat das Leben sie zur Genüge gelehrt, muss man handeln, um die Emotionen zu empfinden, die man sich erhofft.
19
Mutterinstinkt
San Francisco, Kalifornien – 1985
Somer
Auf dem Rückflug nach San Francisco bleiben Somer und Kris abwechselnd wach, um die auf dem Sitz zwischen ihnen schlafende Asha zu beobachten, während sie sich über ihrem kleinen Körper an den Händen halten. Jedes Mal, wenn Somer klar wird, dass Asha jetzt wirklich zu ihnen gehört, durchströmt sie eine Welle von Gefühlen.
Wieder zu Hause, sucht Somer nach dem Instinkt, der ihr, wie ihre Schwiegermutter prophezeit hat, verraten wird, was Asha braucht. Aber sie scheint nie das Richtige zu tun: Asha will abends wach bleiben und spielen, wenn Somer versucht, sie ins Bett zu bringen, oder sie spuckt das Essen aus, mit dem Somer sie füttert. Somer weiß, das Verhalten hat entwicklungsbedingte Gründe, aber sie empfindet es immer noch als persönliche Ablehnung, wenn Asha ihr komplettes Mittagessen auf den Boden fegt. Sie ist überrascht, wie schwer es ihr fällt, sich selbst an den Rat zu halten, den sie den Müttern ihrer kleinen Patienten gibt, nämlich sich wegen so was nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
An ihrem dritten Abend zu Hause hat Kris Nachtschicht im Krankenhaus und bemerkt, wie nervös sie ist, weil sie das erste Mal so lange mit Asha allein ist. Irgendwann nach Mitternacht wird Asha wach und brüllt. Somer macht ein Fläschchen Milch für sie warm, doch Ashaweint wieder los, sobald sie es getrunken hat. Okay, ich bin Kinderärztin, ich schaffe das. Wenn das Kind weint: Temperatur prüfen, Windel prüfen, prüfen, ob Haar-Tourniquet an Fingern oder Zehen. Panik steigt auf. Vielleicht hat sie eine Harnwegsinfektion? Oder Meningitis? Sie untersucht Asha von Kopf bis Fuß, findet aber keine medizinische Ursache für Ashas Gebrüll. Jetzt ist sie Mutter, nicht Ärztin, und sie fühlt sich hilflos. Somer singt Asha etwas vor, wiegt sie in den Armen und geht mit ihr auf und ab. Asha schreit zwei geschlagene Stunden, und Somer kann sie mit nichts beruhigen. Schließlich und unerklärlicherweise schläft Asha irgendwann gegen drei Uhr morgens an Somers verschwitzter und tränennasser Schulter im Schaukelstuhl ein. Erledigt rührt Somer sich nicht mehr von der Stelle, bis zum Morgen, als Kris die beiden dort findet.
»Ich kann das nicht«, flüstert sie, als er sie sanft weckt. »Ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Sie hat die halbe Nacht geschrien.« Somer dachte immer, dass nicht jede Frau fürs Muttersein geschaffen sei. Sie weiß aus ihrer beruflichen Praxis, dass manche Mütter sich besser in diese Rolle einfinden als andere. Die Natur hatte bereits entschieden, dass sie keine Mutter sein könne, und jetzt fragt sie sich, ob Kris und sie vielleicht einen Fehler gemacht haben. Die rationalen Erklärungen, nach denen sie in ihrem Kopf sucht, können die Zweifel nicht übertönen, die in ihrem Herzen aufsteigen.
»Wie meinst du das? Du machst es doch schon«, sagt Kris. »Sieh sie dir an.«
Sie blickt zu Asha hinunter, die in ihren Armen schläft, den Mund leicht geöffnet. Kris streicht Asha übers Haar und lächelt Somer an. Sie versucht, ebenfalls zu
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