Geheime Tochter
die er sich vorn auf die Hose drückt. Sie sind nass. Sie zieht ihm frische Sachen an und deckt die feuchte Schlafmatte mit einer alten Zeitung ab. Sie legen sich alle wieder hin: Jasu hält Kavita fest umschlungen und sie ihren Sohn. Im Dunklen sagt Vijay bloß: »Ich will zu Nani.« Kavita fängt an zu weinen, ohne einen Laut oder eine Bewegung. Vijays Atem wird schließlich tief und regelmäßig, doch weder sie noch Jasu machen für den Rest der Nacht ein Auge zu.
Am nächsten Morgen kommt Jasu vom Wasserholen mit näheren Einzelheiten über die Polizeirazzia zurück, die anscheinend im basti keine Seltenheit ist. Wie er von einer Nachbarin erfahren hat, hat die Polizei nach einem Mann gesucht, der im Verdacht steht, in der Fabrik, in der er gearbeitet hat, gestohlen zu haben. Obwohl sie ein Dutzend Familien aus dem Schlaf gerissen haben, blieb der Mann unauffindbar.
Aber sie fanden seine fünfzehn Jahre alte Tochter. Und vor den Augen ihrer Mutter und jüngeren Brüder und während die Nachbarn gelähmt vor Angst zuhörten, vergewaltigten sie sie.
23
Thanksgiving
Menlo Park, Kalifornien – 1991
Krishnan
»Hast du die Kartoffeln schon gestampft? Kris!«
Krishnan ist so vertieft in die Seiten des India Abroad , dass er Somer kaum registriert.
»Du musst die Kartoffeln stampfen. Der Truthahn ist in einer halben Stunde gar. Und tu diesmal ja keinen Pfeffer rein. Mein Dad isst nicht gern scharf.«
Krishnan atmet laut aus. Scharf? Nur ein Amerikaner würde etwas Pfeffer im Kartoffelbrei, wohl das fadeste Gericht, das je kreiert wurde, für scharf halten. Nein, das ließe sich höchstens von den battata pakora behaupten, die seine Mutter machte – weich gekochte Kartoffelscheiben, in scharf gewürzten Backteig getaucht und mit grünen Chilis gespickt, dann goldbraun frittiert. Sie schaffte es nur selten, eine fertige auf den Teller zu legen, ehe seine gierigen Finger sie wegschnappten. Es ist so lange her, seit er eine gute battata pakora gegessen hat. Er seufzt und macht sich daran, die dampfenden Kartoffeln in der großen Schüssel zu zerdrücken. Somer tut ihm gelegentlich den Gefallen und geht mit ihm Indisch essen, aber so richtig angetan ist sie nicht von der indischen Küche, und ihre eigenen Kochkünste halten sich in Grenzen. Er hat ihr mal gezeigt, wie man chana masala zubereitet, ein einfaches Gericht, das man mit einer Dose Kichererbsen und ein paar abgepackten Gewürzen hinkriegt. Inzwischen istes das einzige Gericht, das sie wieder und wieder macht, mit Pitabrot aus dem Supermarkt. Das teure Glas Safran, das seine Eltern aus Indien geschickt haben, steht ungeöffnet auf dem Gewürzregal, nachdem Somer zugegeben hat, dass sie nicht weiß, wie es verwendet wird.
Er gibt zwei Esslöffel Butter in die Schüssel, gießt etwas Milch hinein und rührt. Die Pampe ist so glatt und weiß wie Krankenhausbettlaken und etwa genauso verlockend. Wie kann man etwas essen, das weder Farbe noch Geschmack hat? Für die Zubereitung dieser Kartoffeln ist er an Thanksgiving zuständig. Einmal hat er sich die Freiheit erlaubt, den Brei mit einer Handvoll fein gehackter Korianderblätter zu garnieren. Im Jahr darauf hat er einen Teelöffel vom garam masala seiner Mutter mit der Butter verrührt. Dieses Jahr muss er sich wieder mit Salz und Butter begnügen.
»Der Kuchen muss noch in den Backofen.« Somer hastet zum Herd, öffnet die Backofenklappe und sticht das Thermometer zum x-ten Mal in den Truthahn.
Es ist für Krishnan ein ewiges Rätsel, wieso Amerikaner und besonders seine Frau wegen dieser einen Mahlzeit im Jahr so ein Theater machen. Wenn seine Familie zu Hause feierte, wurden in der Regel mindestens ein Dutzend Gerichte aufgetischt, und die Zubereitung jedes einzelnen war komplizierter, als einen Truthahn für ein paar Stunden in den Backofen zu schieben. Und kein Einziges kam aus einer Dose oder einer Fertigpackung. Jedes Jahr an Diwali waren seine Mutter und seine Tanten vorher tagelang mit Kochen beschäftigt: leichte luftige dhoklas , die in mächtiges Kokosnusschutney getunkt werden, kräftiges Gemüsecurry, fein gewürztes dal . Jedes Gemüse wurde einzeln vom sabzi-wallah ausgesucht, und jedes Gewürz wurde per Hand geröstet, gemahlen und gemischt.Der säuerliche, cremige Joghurt war selbst gemacht, und die parathas wurden gerollt und heiß aus der Pfanne serviert. Die Frauen verbrachten Stunden tratschend und lachend in der Küche, während sie schälten und schnibbelten, köchelten und
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