Geheime Tochter
brutzelten und so einen Festschmaus für zwanzig Leute oder mehr zubereiteten. Nie hat er die Art von hektischer Sorge erlebt, die seine Frau jetzt an den Tag legt. Er denkt daran zurück, wie er zum ersten Mal Bekanntschaft mit den seltsamen Ritualen eines amerikanischen Thanksgiving machte.
In seinem ersten Jahr als Medizinstudent lud ihn sein Kommilitone Jacob nach Boston ein. Krishnan war erst seit ein paar Monaten in den Staaten und die ganze Zeit in Kalifornien, sodass er bei seiner Ankunft in Boston als Erstes über die knackig kalte Luft und die leuchtenden Farben der Blätter staunte. Es war der erste Herbst, den er je erlebte.
Es waren ein Dutzend Leute da, und Krishnan wurde gleich dazu verdonnert, mit den anderen Männern im weitläufigen Garten des herrschaftlichen Kolonialhauses Laub zu harken. Schon das war verwirrend – er fragte sich, warum es für derlei Arbeiten kein Personal gab –, aber was Krishnan noch mehr verwirrte, war die Partie Touch Football, die anschließend gespielt wurde. Als sie sich danach im Haus die tauben Finger am Kamin wärmten, konnte Krishnan das perlende Lachen von Jacobs hübscher Schwester aus der Küche hören. Ihre Cousinen neckten sie, weil sie ihren neuen Freund das erste Mal mit nach Hause gebracht hatte. Dieses Prinzip war Krishnan völlig fremd. In Indien waren die Eltern und andere Verwandte der erste Prüfstein bei der Wahl der oder des Zukünftigen, nicht der letzte. Verlobte Paare trafen sich biszur Hochzeit nur selten und für gewöhnlich unter Aufsicht. Krishnan schmeckte das Essen, obwohl er sich des Gedankens nicht erwehren konnte, dass alles mit ein bisschen scharfer Soße um einiges besser geschmeckt hätte. Als das Wochenende vorüber war, fand Krishnan alles faszinierend, was er gesehen hatte: das schöne Haus, den weitläufigen Garten, die hübsche blonde junge Frau. Er wollte das alles auch. Er hatte sich in den amerikanischen Traum verliebt.
Als er zum Studium in die Staaten kam, war er ganz begeistert von den neuen Möglichkeiten, die das Leben plötzlich für ihn bereithielt. Der Unterschied zwischen dem beschaulichen, gediegenen Campus in Stanford und der hektischen Großstadt, aus der er gekommen war, hätte größer nicht sein können, aber Amerika hatte vieles, was ihm zusagte: saubere Straßen, riesige Einkaufszentren, bequeme Autos. Er fand auch Geschmack an dem Essen, insbesondere an den Pommes und Pizzen in der Campus-Cafeteria.
Als Krishnan nach dem zweiten Studienjahr seine Familie in Indien besuchte, hatte sich vieles verändert. Es war der Sommer 1975, und Indira Gandhi hatte gerade den nationalen Ausnahmezustand verhängt, nachdem sie wegen Wahlbetrugs verurteilt worden war. Politische Proteste wurden rasch niedergeschlagen und Regierungsgegner zu Tausenden inhaftiert. Es war kaum möglich, den mit Propaganda gefüllten Zeitungen irgendwas zu glauben, und es herrschte eine ausgeprägte Verängstigung und Unsicherheit, was die Zukunft betraf. Als Krishnan seinen Vater bei der Visite begleitete, kam ihm das Krankenhaus älter vor, als er es in Erinnerung hatte, vor allem im Vergleich zu Stanford. Einige seiner Freunde heirateten, doch Krishnan gelang es, die Andeutungen seinerMutter, es sei auch für ihn allmählich Zeit, eine Frau kennenzulernen, an sich abperlen zu lassen. Am Ende dieses Sommers merkte er, dass ihm Amerika fehlte, wo das Leben angenehm war und die Karrierechancen besser. Der Besuch in seiner Heimat hatte für ihn den Ausschlag gegeben, und als er nach Kalifornien zurückkehrte, um die letzten beiden Jahre seiner Ausbildung zu absolvieren, war er ziemlich sicher, dass er bleiben wollte.
Die zehn Jahre seit dem Studium sind wie eine verschwommene Aneinanderreihung von Tagen und Nächten vergangen, in denen er unermüdlich auf das Ziel hingearbeitet hat, Chirurg zu werden. Er bewältigte eine der härtesten Facharztausbildungen im ganzen Land. Mittlerweile suchen Kollegen seinen Rat bei ihren schwierigsten Fällen, und er wird oft gebeten, eine Gastvorlesung in Stanford zu halten. Und die hübsche blonde junge Frau hat er auch bekommen, er ist mit ihr verheiratet. Nach objektiven Maßstäben ist sein Leben ein Erfolg. In den fünfzehn Jahren, die er in diesem Land lebt, hat er den Traum wahr gemacht, den er so unwiderstehlich fand.
Sie sitzen alle im Esszimmer, am festlich geschmückten Tisch, mit ein wenig zu viel Abstand zueinander. Somers Vater tranchiert den Truthahn, und sie lassen die Schüsseln mit Füllung,
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