Geheime Tochter
weiterweiß. Er nimmt Kavitas Hand, zieht sie auf die Beine, um mit ihr in dem kleinen, modrigen Raum zu tanzen. Kavita macht mit, zuerst widerwillig, bis sie sieht, dass Vijay in die Hände klatscht und auch mitsingt. Dann erscheint ein echtes Lächeln auf ihrem Gesicht, und schon bald lachen und tanzen sie alle drei zusammen. Ihren ersten Abend in der Hölle verbringen sie eng aneinandergeschmiegt, bis sie einschlafen.
Am nächsten Morgen weckt sie das laute Gehupe von Lastwagen draußen vor der Tür. Kavita hört es zuerstund kann nicht wieder einschlafen. Kurz darauf wird Jasu wach. Nachdem sie einige Minuten eng umschlungen mit offenen Augen dagelegen haben, stehen sie beide leise von der Schlafmatte auf. Kavita geht nach draußen, um die Latrine zu suchen. Sie sieht eine lange Warteschlange, doch als sie sich erkundigt, erfährt sie, dass die Leute an einem öffentlichen Wasserhahn anstehen. Einen ausgewiesenen Latrinenbereich gibt es nicht. So sittsam, wie es ihr unter den Umständen möglich ist, verrichtet sie ihr Geschäft an den Eisenbahnschienen und kehrt rasch zur Hütte zurück.
»Da drüben stehen schon viele Leute für Wasser an«, sagt sie zu Jasu und zeigt in die Richtung. »Aber wir haben nichts zum Wasserholen – keinen Topf oder Eimer.«
»Du wirst heute Wasser brauchen. Es wird ein heißer Tag. Wie wär’s damit?«, sagt Jasu und nimmt die beiden leeren Limoflaschen vom Vorabend. »Ich gehe. Bleib du hier«, sagt er und zeigt auf den schlafenden Vijay. Als er fast eine Stunde später zurückkommt, sieht er mitgenommen aus.
»Was ist denn, jani? Wieso hat das so lange gedauert?« Sie benutzt das Kosewort eigentlich nur nachts, wenn sie intim sind, aber jetzt entfährt es ihr, als sie seinen verstörten Gesichtsausdruck sieht.
»Die Leute hier sind alle verrückt, Kavi. Eine Frau dachte, eine andere wolle sich in der Schlange vormogeln, und schrie sie an, sie solle sich gefälligst wieder hinten anstellen. Als sie sich weigerte, sind sie zu mehreren auf sie los – schubsten und traten sie, bis sie abzog. Frauen, die sich prügeln. Wegen Wasser.« Er schüttelt den Kopf, noch immer ganz bestürzt von dem Erlebnis. »Morgen stelle ich mich früher an.« Er reicht ihr die gefüllten Limoflaschen, macht sich dann auf den Weg, um nach einer Wohnungund Arbeit zu suchen, und verspricht, bei Sonnenuntergang zurück zu sein.
Als Vijay aufwacht, beschließt Kavita, den basti tagsüber mit ihm zu verlassen, weil sie schon jetzt spürt, wie sich die Hoffnungslosigkeit der Slums auf sie legt. Sie packt ihre wichtigsten Habseligkeiten zum Mitnehmen ein und versteckt alles andere unter der Schlafmatte. Dann nimmt sie Vijay an die Hand und wandert mit ihm durch die Straßen von Bombay – über kaputte Bürgersteige, die mit Müll und Tierkot übersät sind, durch ein dichtes Gedränge von Menschen, die keine andere Wahl haben, als sich gemeinsam zu bewegen, wie ein Vogelschwarm. Straßenverkäufer bieten lauthals ihre Waren feil.
»Heißer chai! Garam garam chai! Heißer Tee!«
»Schauen Sie, Madam. Salwar khameez! Nur zweihundert Rupien. Viele Farben!«
»Die neusten Filme. Zwei Filme nur fünfzig Rupien. Sehr guter Preis. Große Auswahl.«
Kavita muss wieder an den Tag vor Jahren denken, als sie durch diese Straßen ging, an Rupas Hand, so wie sie jetzt den kleinen Vijay führt. Sie merkt, dass sie an jeder Ecke nach irgendwas Ausschau hält, was ihr bekannt vorkommt. Habe ich damals die Straße an dieser Bushaltestelle überquert? Bin ich nicht an diesem Zeitungsstand vorbeigekommen? Ist das nicht der Obst- und Gemüsemarkt, den ich gesehen habe? Inmitten dieser verrückten Stadt, die mit über zehn Millionen Menschen aus allen Nähten platzt und in der sie vorher erst ein einziges Mal war, versucht Kavita, irgendetwas Vertrautes zu entdecken. In diesem Gewimmel aus Körpern und Gliedmaßen sieht sie ein Gesicht, das ihr bekannt vorkommt, ein kleines Mädchen, das genau dem Bild entspricht, das sie sich im Geist von Usha macht. Zwei glänzende, mit Schleifen zusammengebundene Zöpfe, einrundes Gesicht, ein süßes Lächeln. Das kleine Mädchen hält die Hand einer Frau in einem grünen Sari. Ist das Usha? Könnte sie das sein? Sie sieht ungefähr so alt aus wie Vijay. Kavita schiebt sich durchs Gedränge, folgt dem Paar, ohne auf Vijays Proteste zu achten, dass sie ihn zu schnell hinter sich herzieht. Der grüne Sari entschwindet ihrem Blick, verliert sich in einem Gewusel aus Menschen und
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