Geheime Tochter
werden wir eine Wohnung haben, mit reichlich Platz und einer großen Küche für dich. Na?«
Es ist ihr unmöglich, nicht zu lächeln, wenn er so ist. Jetzt kann sie endlich ausatmen. »Okay, Mister Dabbawallah , dann wollen wir mal zu Abend essen.«
Zwei Wochen später schaut Kavita morgens von ihrem Schlaflager aus zu, wie Jasu eine Schüssel mit kaltem Wasser in die Ecke des Raumes stellt und anfängt,sich gründlich zu waschen und zu rasieren. Er hat jeden Tag im dabbawallah – Büro nachgefragt, aber sie haben noch immer keine Arbeit für ihn. Auch der Mann, dem er die zweihundert Rupien gegeben hat, ist seitdem nicht wieder aufgetaucht. Dennoch steht Jasu jeden Tag in aller Frühe auf, um sich draußen vor dem Wasserhahn anzustellen. Er besteht darauf, das selbst zu erledigen, obwohl das für gewöhnlich Frauensache ist. Heute hat er in der Warteschlange von einem Typhusausbruch auf der Nordseite der Siedlung gehört. Drei Kinder sind schon gestorben, viele weitere erkrankt. »Halte Vijay von dem schmutzigen Wasser fern«, schärft er Kavita ein. »Die Leute hier machen susu und kaka , wo sie wollen, wie die Hunde. Ungeniert.« Er kleidet sich sorgfältig an und kämmt sich die Haare. Er beeilt sich, als würde er irgendwo zu einer bestimmten Zeit erwartet. Jeden Morgen macht er sich voller Hoffnung auf den Weg; jeden Abend kommt er niedergeschlagen in ihr vorläufiges Zuhause zurück.
Kavita geht nach draußen, um auf der noch heißen Glut vom Vorabend chai zu kochen. Vom Abendessen ist noch etwas khichdi übrig, das sie in zwei Portionen aufteilt, je eine für Jasu und Vijay. Während sie das Frühstück zubereitet, kommen andere Frauen aus den Nachbarhütten, um das Gleiche zu tun. Sie raffen ihre zerknitterten Saris zwischen den Knien, hocken sich hin und plaudern miteinander. Sie leben schon lange hier, diese Nachbarn. Kavita beteiligt sich nicht an den Gesprächen, lauscht aber den Klatsch- und Tratschgeschichten an den Kochfeuern. Was sie hört, macht ihr Angst: Kinder, die vermisst werden, Frauen, die in der Nacht zuvor verprügelt worden sind. Manche Männer brennen selbst Schnaps, den sie verkaufen oder mit den anderen tauschen. Wenn sie betrunken sind,lassen sie ihre Wut gern aneinander oder an ihren Nachbarn und Familien aus.
Diese Slum-Gemeinschaft scheint eine Stadt für sich zu sein. Es gibt Geldverleiher und Schuldner, Vermieter und Mieter, Freunde und Feinde, Verbrecher und Opfer. Im Unterschied zu dem Dorf, aus dem sie kommt, leben die Menschen hier wie Tiere: Eingepfercht in kleinen Hütten, kämpfen sie ums Lebensnotwendige. Und schlimmer noch, viele Leute, die schon seit Jahren hier sind, haben diesen Slum inzwischen als ihr Zuhause akzeptiert. Sie erledigen die dreckigsten, widerwärtigsten Arbeiten in der Stadt – als Toilettenputzer, Müll- und Lumpensammler. Keine dabbawallahs , die in anständigen Wohnungen leben wie anständige Leute. Sobald Jasu seine Stelle bekommen hat, werden sie von hier weggehen. Kavita weiß, dass sie hier nicht überleben werden.
Später am Abend, als sie alle drei längst eingeschlafen sind, werden sie von lauten Stimmen draußen geweckt, Männergebrüll. Jasu springt sofort auf und eilt zur Tür. Die leeren Gold-Spot-Flaschen stehen schon parat fürs Wasserholen am nächsten Morgen. Er nimmt eine in jede Hand. Kavita setzt sich auf und nimmt Vijay, der gar nicht richtig wach ist, in die Arme. Während ihre Augen sich noch an die Dunkelheit gewöhnen, werden die Stimmen lauter und kommen näher. Jasu öffnet die Tür einen Spalt und späht hinaus. Rasch schließt er sie wieder und flüstert Kavita zu: »Polizei! Sie reißen die Leute aus dem Schlaf und schauen in die Hütten. Sie haben Stöcke und Taschenlampen.« Er presst den Rücken gegen die Tür. Sie schiebt sich schützend mit dem Körper vor Vijay, der jetzt die Augen ängstlich aufgerissen hat.
Sie hören, wie gegen Türen gehämmert wird. Flaschenwerden gegen Wände geworfen. Glas zerbirst. Noch mehr wütendes Gebrüll. Dann der Schrei einer Frau, lang und laut und schluchzend. Nach einer schier endlos langen Zeit werden die wütenden Stimmen leiser und weichen schließlich böse klingendem Gelächter, das langsam in der Ferne verhallt. Dann ist es wieder still. Jasu bewacht noch immer die Tür. Kavita winkt ihn zu sich. Als sie ihn umarmt, spürt sie die Panik und den Angstschweiß, von der Polizei ausgelöst.
»Mummy?«, sagt Vijay. Er zittert. Kavita blickt nach unten auf seine Hände,
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