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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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ein und erheben sich halb von ihren Stühlen, um die Gläser ungelenk über den Tisch zu strecken und miteinander anzustoßen. Krishnan nimmt einen großen Schluck von dem gekühlten Chardonnay, spürt, wie die Flüssigkeit ihm durch die Kehle rinnt und die Kühle sich in seinem Körper ausbreitet.

24
Nachmittagsruhe
    Bombay, Indien – 1991
Jasu und Kavita

    Das blecherne Klingeln des Weckers lässt Jasu aufstöhnen. Die Sprungfedern quietschen, als er sich von der dünnen Matratze erhebt, obwohl das Geräusch ebenso gut von seinen Gelenken herrühren könnte. Steifbeinig stakst er in dem einen Raum, in dem sie alle schlafen, am Fuß des Bettes vorbei und berührt Kavita an der Wade. Sobald sie sich regt, geht er nach unten zu den Gemeinschaftstoiletten des chawl . Das frühe Aufstehen hat einen Vorteil: Die Latrinen des Mietshauses laufen noch nicht über.
    Als er zurückkommt, sieht er, dass Kavita sich bereits gewaschen und angezogen hat. Sie putzt sich gerade die Zähne, spuckt über die Balkonbrüstung. Während er sich in dem zweiten kleinen Raum wäscht, der auch zum Kochen und Essen dient, hört er das Klingeln von Kavitas Gebetsglöckchen. Ihr leiser Gesang wird Vijay bald wecken. Selbst wenn sie hier mehr Platz hätten, würde Vijay nicht allein schlafen. In seinen ganzen sechs Lebensjahren hat er stets das Bett mit seinen Eltern geteilt, und außerdem wird er nach der schlimmen Zeit in den Slums immer wieder von Albträumen heimgesucht. Kavita betritt die Küche, um das Frühstück zu machen. Jasu verschwindet flugs ins Wohn- und Schlafzimmer, um sich anzuziehen und sich mit einem dünnen schwarzen Kamm durch das nasse Haar zu fahren. Vor dem mandir bleibt erkurz stehen, um die Handflächen aneinanderzulegen und den Kopf zu neigen. Kavita und er passieren einander jeden Morgen etliche Male, vollführen einen wortlosen, gut einstudierten Tanz.
    »Willst du was essen?«, fragt Kavita.
    »Ich nehme was mit«, sagt er. Bis zu der Fabrik Vikhroli sind es nur vierzig Minuten, eine kurze Strecke für Bombayer Verhältnisse, aber er kommt gern als einer der Ersten morgens zur Arbeit. Zum Glück liegt auch der Hauptbahnhof nur ein paar Querstraßen entfernt, und inzwischen beherrscht er die Kunst, einem schon anfahrenden Zug hinterherzurennen und im allerletzten Moment aufzuspringen. Das bereitet ihm jeden Tag am meisten Spaß: dieser Sport, den Zug noch zu erwischen, die Freiheit, sich nach draußen hängen zu lassen, während der Zug durch die Stadt saust, das Gefühl, wie der Fahrtwind ihm die schon schweißverklebte Kleidung durchpustet. Er hat gehört, wie gefährlich das ist: Anscheinend kommen dabei jedes Jahr an die zweitausend Passagiere ums Leben. Aber bei mehreren Millionen Menschen, die in Bombay mit den Pendlerzügen fahren, erscheint Jasu das weder unvernünftig noch besonders unsicher.
    Die Fahrradfabrik jedoch, in der er arbeitet, ist dagegen ausgesprochen unsicher. Im ersten Monat dort hat er mit angesehen, wie zwei Männer in den Maschinen Finger verloren und ein dritter schwere Verbrennungen durch ein Schweißgerät erlitt. Wenn er morgens frühzeitig erscheint, ist die Wahrscheinlichkeit größer, eine der ungefährlicheren Arbeiten zu ergattern, wie Fahrradrahmen lackieren und Schrauben festziehen. Die Fabrikhalle ist groß und staubig, voll mit einem Wirrwarr aus Maschinen und Werkzeugen. Das trübe Licht erschwert die Sicht, und mehr als einmal ist Jasu über Elektrokabel gestolpert, diekreuz und quer über den Boden verlaufen. Der Staub und der Qualm von den Schweißbrennern reizen Hals und Augen dermaßen, dass es ihm wie die reinste Erholung vorkommt, wenn er nach Feierabend in Bombays verpestete Luft tritt. Dennoch ist Jasu froh, diese Arbeit zu haben, die er einige Tage nach der Polizeirazzia in den Slums gefunden hat. Er verdient zwar nicht so viel, wie er als dabbawallah verdient hätte, nur acht Rupien die Stunde. Aber wenn er morgens und abends eine Stunde mehr arbeitet, kommt er auf über zweitausend Rupien im Monat, wofür er im Dorf fünf Monate schuften musste.
    Trotzdem war es nicht leicht, ein bezahlbares Dach über dem Kopf zu finden. Die Wohnung in dem chawl auf der Shivaji Road ist winzig, sogar wesentlich kleiner als das Haus, das sie in ihrem Dorf zurückgelassen haben. Aber Jasus Perspektive hat sich verändert, seit sie in Bombay sind, nach den schrecklichen Zuständen, die sie in den Slums erlebt haben. Sie hatten nur ein oder zwei Nächte bleiben wollen und waren

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