Geheime Tochter
doch wochenlang dort, was ihnen wie eine Ewigkeit vorkam. Ganz gleich, was er alles über Bombay gehört hatte, ganz gleich, was er sich von der Stadt zurechtgeträumt hatte, etwas so Schlimmes wie Dharavi hätte er sich niemals vorstellen können. Es hatte nicht viel gefehlt, und er wäre mit Sack und Pack zurück nach Hause geflohen.
Aber er wusste, dass es in seinem Heimatdorf nichts gab, was die Rückkehr lohnte, und er wusste, dass Kavita und Vijay sich auf ihn verließen. Er hatte sie hierher gebracht und er würde für sie sorgen. An dem Tag nach der Polizeirazzia hatte Jasu dem Mann in dem grellbunten Sari ein Messer abgekauft und fortan an der Tür geschlafen, mit der Waffe in der Hand. Vijay wachte mehrere Nächte hintereinander schreiend auf und musste mitberuhigenden Worten wieder zum Einschlafen gebracht werden. Kavita beklagte sich zwar nie, aber es war nicht zu übersehen, wie sehr sie das Leben in den Slums verabscheute, und ihr Hass wuchs mit jedem Tag, den sie gezwungen waren zu bleiben. Wenn er nach Hause kam, ertappte er sie häufig dabei, wie sie den Boden der Hütte mit dem Besen traktierte, während Vijay mit verängstigter Miene draußen hockte. Das chawl auf der Shivaji Road erfüllte ihre Grundbedürfnisse und bot mehr Sicherheit und Privatsphäre als das basti . In der Nähe lag sogar eine gute Schule für Vijay. Sie verwendeten den Rest der Ersparnisse, die sie von zu Hause mitgebracht hatten, plus den Großteil von Jasus erstem Monatslohn, um die Wohnung anzumieten. In der ersten Nacht fühlten sie sich in ihren zwei bescheidenen Zimmern wie in einem Palast im Vergleich zu der Slum-Hütte, aus der sie kamen.
Der Zug wird langsamer, als er in den Bahnhof einfährt, und Jasu springt auf den Bahnsteig, schaut dann auf seine Uhr. Obwohl er noch ein gutes Stück zu Fuß zurücklegen muss, wird er vor halb acht in der Fabrik sein, wie jeden Morgen, seit er mit diesem Job angefangen hat. Er wird zum Vorarbeiter gehen, der ihm sogar schon ein- oder zweimal eine lauwarme Tasse Tee angeboten hat, die unangetastet auf dem Tablett des Chefs stehen geblieben war. So läuft es an jedem von Jasus Arbeitstagen, sechsmal die Woche, von morgens bis weit nach Einbruch der Abenddämmerung. Er tut, was ihm gesagt wird, und legt nur selten eine Pause ein, nicht mal wenn die Kollegen auf eine Zigarette nach draußen gehen. Wenn er abends nach Hause kommt, stinkt er nach Schweiß, und ihm tut alles weh. Die Fabrikarbeit ist anstrengender als die Feldarbeit zu Hause im Dorf. Aber das macht Jasu nichts aus. Er und seine Familie sind auf dem Weg in ein besseres Leben.
Kavita spült die letzten Edelstahlschüsseln. Jeden Morgen, wenn sie in der luxuriösen Wohnung ihres Arbeitgebers ankommt, macht sie als Erstes den Abwasch vom Frühstück. Was sie zu tun hat, sagt ihr Bhaya, die leitende Hausangestellte, die schon so lange hier beschäftigt ist, dass Memsahib ihr Anweisungen in Form von unvollständigen Sätzen erteilt, eine Art Geheimsprache, die nur die beiden verstehen. Zu Bhayas bevorzugten Pflichten gehört es auch, auf den Markt zu gehen und sich ums Essen zu kümmern, während Kavita das Geschirr spült und überwiegend fürs Putzen zuständig ist. Sie erledigen ihre jeweiligen Aufgaben ohne viele Worte, und wenn Bhaya Kavita anspricht, dann meist nur, um sie zu bitten, noch etwas auf die Einkaufsliste für den Markt zu setzen – Durumweizenmehl, masoor dal , Kreuzkümmel –, die Kavita im Kopf behält. Sie kann zwar weder lesen noch schreiben, aber sie hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Wörter, auf das Bhaya sich inzwischen verlässt.
Es ist erstaunlich, wie viel Unordnung zwei Menschen anrichten können, selbst wenn die Kinder erwachsen und reich genug sind, um woanders zu leben. Der Sahib und seine Frau benutzen mehrere kleine Tassen und Schälchen für jede Mahlzeit, nicht ein einzelnes thali , wie es Kavita gewohnt ist. Bhaya ist genauso schlimm, denn sie kocht jedes Gericht in einem anderen Topf. Manchmal trägt Memsahib drei verschiedene Saris an einem Tag und wirft die getragenen einfach zusammen mit den abgelegten Unterröcken und Blusen aufs Bett. Ihren Schmuck jedoch schließt sie immer sorgfältig in dem Metallschrank ein. Jeden Tag bügelt Kavita die Saris behutsam, faltet sie zusammen und legt sie zurück in den Kleiderschrank. Sahib und Memsahib haben oft Besuch und fast jeden Tag Gäste zum Essen. Bhaya kocht stets für mindestenssechs Personen, weshalb immer genug für die zwei
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