Geheime Tochter
eine Weile auf andere Gedanken gebracht. Dennoch, Somer würde mit keiner von ihnen tauschen wollen. Liza, die rundum glücklich ist als Kinderfreie, wie sie es nennt. Gail, die sich abstrampelt, um Geld zu verdienen, ein Kind großzuziehen und mit ihrem Exmann klarzukommen. Und Sundari, die in ihrem fünften Lebensjahrzehnt noch immer nach Liebe sucht, sich aber mit einer Beziehung zu einer Katze namens Buddha begnügen muss.
Somer dreht sich vom Sonnenlicht weg, das aufs Kopfkissen fällt. Zu alt für einen Brummschädel. Zweiundfünfzig. Von ihrem Mann getrennt. In einer Studentenbude hausend. Schon so lange in ein und demselben Krankenhaus, dass sie zum festen Inventar gehört, aber noch immer nicht für eine leitende Stelle infrage kommt. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Es kommt ihr vor, als wäre alles auseinandergefallen, was ihr in den letzten fünfundzwanzig Jahren wichtig war, ohne Rücksicht auf die investierte Zeit und Energie. Sie kann sich Ärztin nennen, aber sie kann nicht mehr so stolz darauf sein, wie sie es mal war. Sie ist im Augenblick eigentlich keine Ehefrau mehr, geschweige denn eine gute Mutter. Irgendwo unterwegs, das wird Somer bewusst, hat sie sich selbst verloren.
Sie kann nicht genau sagen, wann ihre Ehe kaputtging. Wenn sie jetzt an Krishnan denkt, ist er kaum noch derselbe Mann, den sie aus Stanford in Erinnerung hat. Dieser Krishnan ist ungeduldig und abschätzig, wie das Klischee des selbstgefälligen Neurochirurgen, über das sie im Studium Witze machten. Er ist nicht mehr so zärtlich und unschuldig wie damals, als er frisch aus Indien kam. Er braucht Somer nicht mehr so wie damals, als sie mit ihm Autofahren übte und ihm zeigte, wie man eine Mikrowelle bedient. Er hat sich schon ewig nicht mehr beim Abendessen in ihren Augen verloren oder auf der Straße stolz ihre Hand gehalten.
Sie überlegt, wann sie das letzte Mal wirklich glücklich waren. Bei Ashas Highschool-Abschluss? Auf Hawaii, in ihrem letzten gemeinsamen Familienurlaub? Nachdem Asha ausgezogen war, um aufs College zu gehen, hatte sich die Distanz zu Krishnan unaufhaltsam vergrößert. Und als ihre Tochter nach Indien abgereist war, hatten sie sich beide schon viel zu weit voneinander entfernt. Es war, als würden sie an gegenüberliegenden Ufern eines Sees stehen, und keiner von ihnen konnte die Distanz überbrücken. Die wütenden Worte, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, sanken wie Steine auf den Grund des Wassers und ließen nur Wellen aus Traurigkeit auf der Oberfläche zurück.
Somer setzt sich auf und wartet, bis sich das Pochen in ihrem Kopf gelegt hat, ehe sie aus dem Bett steigt. Im Badezimmer spritzt sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und stützt sich am Waschbecken ab, während sie das Aspirin aus dem Spiegelschränkchen nimmt. Als sie die Tür wieder schließt, sieht sie ihr Spiegelbild, das Gesicht einerFrau im mittleren Alter. Zweiundfünfzig . In ein paar Wochen reist Krishnan zu Asha nach Indien, und sie wird hier allein zurückbleiben. Und obwohl es diesmal ihr Mann ist, der die Maschine besteigen wird, um wegzufliegen, genau wie ihre Tochter vor einigen Monaten, fragt Somer sich unwillkürlich, ob sie diejenige war, die die beiden dazu getrieben hat. Ob sie sie nicht sogar als Erste verlassen hat.
41
Zwei Indien
Mumbai, Indien – 2004
Asha
»Parag spricht sechs von den einundzwanzig Hauptsprachen in Indien und außerdem Englisch. Du brauchst ihn, Asha.« Meena besteht darauf, dass sie heute einen Dolmetscher mit nach Dharavi nehmen, der ihnen bei den Interviews hilft. »So kannst du dich darauf konzentrieren, deine Fragen zu stellen und alles zu erfahren, was du brauchst. Keine Sorge, er kommt dir schon nicht in die Quere.«
Asha holt einmal tief Luft und atmet aus. »Okay.« Sie ist nervös, obwohl sie nicht sagen könnte, warum. Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht. Sie hat in den Archiven der Times recherchiert und etliche Mitarbeiter der Stadtplanung und anderer zuständiger Stellen in der Verwaltung interviewt. Die meisten von ihnen sind sich einig, wie dieser riesige, heute mitten in der Stadt liegende Slum entstanden ist. Dharavi erstreckt sich auf dem Gebiet eines ehemaligen Mangrovensumpfes, der schließlich trockengelegt wurde, was die dort ansässigen Fischer zwang wegzuziehen. Zu diesem Zeitpunkt strömten immer mehr Menschen aus dem weiteren Umland nach Mumbai, wo sie sich bessere wirtschaftliche Chancen erhofften. Die schlechte Infrastruktur der
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