Geheime Tochter
ansteckend gewesen, hat die Reporterin in ihr im Zaum gehalten. Es ist, als würde er sie schon kennen, sodass sie ihn mit nichts, was sie sagt, überraschen kann. Trotzdem ist sie nicht bereit, seine Frage zu beantworten. Sie schluckt und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Das ist eine lange Geschichte, zu lang, um noch heute Abend damit anzufangen. Ich erzähle sie dir ein andermal.«
»Versprochen?«, fragt er.
Ihr Magen macht einen Purzelbaum. »Versprochen.« Sie streckt eine Hand aus, und statt sie zu schütteln, hebt er sie an seine Lippen und küsst sie ganz leicht, dann legt er seine andere Hand darüber. Als Asha ihre zurückzieht, sieht sie, dass er ihr eine Karte mit seinem Namen und seiner Telefonnummer zugesteckt hat.
In diesem Moment tauchen Bindu und Priya wie aufs Stichwort neben ihr auf. »Da bist du ja. Wir haben dich schon überall gesucht. Absolut unmöglich, hier jemanden zu finden. Wahnsinn.« Priya hat ein durchtriebenes Lächeln aufgesetzt.
Sie verabschieden sich, und als Asha sich zum Gehen wendet, berührt Sanjay ihren Arm. »Nicht vergessen.« Er lächelt. »Versprochen ist versprochen.«
Auf dem Weg nach Hause, während ihre Cousinen sie wegen Sanjay necken, denkt Asha über seine Frage nach, die sie nicht beantworten kann, weil sie die Antwort selbst nicht weiß.
40
Getrennt
Palo Alto, Kalifornien – 2004
Somer
An einem Freitagnachmittag im November wird Somer von Liza, ebenfalls Ärztin in der Klinik, gefragt, ob sie nicht Lust hätte, nach der Arbeit mit ihr und anderen Kollegen etwas trinken zu gehen. Da sie es nicht eilig hat, in die kleine Wohnung zurückzukehren, die ihr ein Student untervermietet hat, der ein Auslandsjahr in Madrid verbringt, willigt sie ein. Die spärlich möblierte Einzimmerwohnung liegt auf einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße ein paar Blocks vom Campus entfernt und ist mit dem beigefarbenen Teppichboden und den neutralen Wänden nicht gerade heimelig. Somer hatte sich von der räumlichen Trennung erhofft, dass sie ohne die ständige Anwesenheit von Krishnan und allem, was zu ihm gehört, ein gewisses Gefühl der Freiheit empfinden würde. Doch jeden Tag, wenn sie in die Studentenbude zurückkehrt, spürt sie dort nichts als Leere.
Sie gehen in eine Weinbar in Palo Alto, eines der angesagten neuen Lokale, die hier seit Somers Studium vor fünfundzwanzig Jahren aufgemacht haben. Liza bestellt sich ein Glas Syrah, und Somer, die von der Auswahl überfordert ist, nimmt das Gleiche. Somer kennt Liza nicht gut, weiß lediglich, dass sie Single ist und leidenschaftlich Yoga praktiziert, häufig sogar mit einer zusammengerollten lila Matte unter dem Arm zur Arbeit kommt. DieKlinikärzte treffen sich einmal im Monat zu einer Besprechung, hasten aber ansonsten auf den Fluren aneinander vorbei. Mit zweiundfünfzig gehört Somer zu den Älteren im Kollegium und ist eindeutig die Erfahrenste, denn sie ist schon über fünfzehn Jahre dabei. Das schonungslose Tempo im Ärztezentrum, verbunden mit der unberechenbaren Klientel und der kläglichen Bezahlung, hat eine hohe Fluktuation unter den jüngeren, ambitionierten Ärzten zur Folge.
Somer trinkt einen Schluck von ihrem Wein und bemerkt, dass ihre Kollegen offenbar mühelos vom Arbeits- in den Feierabendmodus umschalten können, so entspannt, wie sie da ohne weiße Kittel sitzen und den Wein in ihren Gläsern kreisen lassen. Liza trägt das Haar nicht wie sonst im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, sondern lässt es sich locker ums Gesicht fallen. Mit den drahtigen grauen Strähnen in den dunklen Locken und den Falten, die sich ihr um die Augen eingegraben haben, sieht sie aus wie Ende vierzig, ein paar Jahre jünger als Somer. Die Gespräche drehen sich um so vorhersehbare Themen wie exzentrische Patienten, mürrische Krankenschwestern und das jüngste Wahldebakel. Nach dem ersten Glas Wein verabschieden sich die meisten, um nach Hause zu ihren wartenden Familien zu fahren.
»Na, ich hab’s nicht eilig.« Liza rutscht über die jetzt leere Holzbank zu Somer hinüber. »Ich habe meiner Katze heute Morgen schon ihr Fressen hingestellt. Und du?«
»Ich muss auch nirgendwohin«, antwortet Somer und trinkt den letzten Schluck von ihrem Wein. Sie bringt es nicht fertig zuzugeben, dass sie und Kris getrennt sind. Es ist erst ein paar Wochen her, und sie hat sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, allein zu leben: Sie kocht morgens noch immer zu viel Kaffee für eine Person undlässt
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