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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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aussehende Frau, die vor einer Hütte steht und laut ruft, weckt ihre Aufmerksamkeit.
    »Was will sie denn?«, fragt Asha.
    »Da soll sich wer beeilen«, sagt Parag.
    In diesem Moment dreht die Frau sich um und bemerkt die Kamera, kommt dann näher, um guten Tag zu sagen. Sie und Parag wechseln höflich ein paar Worte, dann wendet er sich an Asha. »Sie will ihre Tochter zur Schule bringen. Das Mädchen trödelt immer.«
    »Oh, sehr gut. Kann sie kurz mit uns sprechen? Wie alt ist ihre Tochter?«
    »Sie hat vier Kinder, nur zwei leben noch hier bei ihr … ein dreizehnjähriger Sohn, der heute Morgen schon frühzur Schule gegangen ist. Und ihre zehn Jahre alte Tochter, die noch im Haus ist.«
    »Ihre zehnjährige Tochter geht zur Schule? Das ist toll.«
    »Ja, sie sagt, Schule ist sehr wichtig«, übersetzt Parag. »Sie bringt ihre Tochter jeden Tag hin und holt sie auch wieder ab. Allein würde sie nicht gehen können.«
    »Was macht ihr Mann?«, fragt Asha.
    Die Frau antwortet mit einem einzigen Wort, das Parag dann übersetzt. »Er ist tot.«
    Asha notiert das in ihrem Notizbuch, unsicher, welche Frage als Nächstes angebracht wäre. In diesem Moment sieht sie, wie Meenas Aufmerksamkeit von irgendetwas hinter der Frau abgelenkt wird, und Asha wendet den Kopf. Auf den ersten Blick denkt Asha, dass da ein Kleinkind aus der Hütte kriecht, doch dann sieht sie voller Entsetzen, dass das Mädchen verkrüppelt ist. Beide Beine sind Stümpfe, und sie bewegt sich vorwärts, indem sie sich mit den Armen auf dem Boden aufstützt und den Torso nach vorn schwingt. Asha stockt der Atem, und sie wendet sich von dem grotesken Anblick ab. Sie schaut Meena an und sieht, dass die sie anstarrt und mit einem Nicken auffordert weiterzumachen. Also wendet sich Asha ihrer Interviewpartnerin zu. Die Frau geht gerade in die Hocke, und ihre beinlose Tochter schafft es irgendwie, ihr auf den Rücken zu klettern. Bevor Asha eine weitere Frage stellen kann, sagt Parag: »Sie muss jetzt gehen, sonst kommt die Kleine zu spät. Die Schule ist zwei Kilometer entfernt.« Parag dankt der Frau, indem er die Handflächen vor der Brust aneinanderlegt, und Asha tut es ihm nach. Sie sehen der Frau mit dem Kind auf dem Rücken hinterher, bis sie in der Menge verschwunden ist.
    Asha ist schwindelig. Von der Hitze? Sie versucht, tief zu atmen, doch der unerträgliche Geruch nach Abwasser und Fäkalien steigt ihr in die Nase. Sie schüttelt den Kopf und sagt zu Meena: »Bin gleich wieder da.« Sie rennt quer über die Straße zu einem Zeitungskiosk, froh, für einen Augenblick wegzukommen. Sie hat nicht damit gerechnet, dass ihr das, was sie heute hier gesehen hat, so an die Nieren gehen würde, sie dachte, auf alles gefasst zu sein. Doch all die Fotos, die sie sich angesehen hat, waren umrandet, die Filmausschnitte vom Bildschirm gerahmt. Hier, in Dharavi, geht das Elend weiter und weiter, breitet sich in alle Richtungen aus, so weit sie blicken kann. Die geballte Wirkung der widerlichen Gerüche, der bedrückenden Lebensbedingungen und hoffnungslosen Zukunftsaussichten der Kinder hier hat tiefes Mitleid in ihr geweckt. Asha kauft sich eine Limca, die Zitronen-Limetten-Limonade, für die sie eine Schwäche entwickelt hat. Nachdem sie die Flaschenöffnung abgewischt hat, trinkt sie die Hälfte der Limo in einem einzigen Zug. Ein Doppeldeckerbus fährt an ihr vorbei, und sie sieht Meena und Parag auf der anderen Straßenseite ungeduldig warten. Sie muss sich am Riemen reißen. Als sie die Flasche geleert hat, eilt sie zurück zu den anderen.
    »Okay, ich musste mich bloß ein bisschen abkühlen. So. Wir können wieder«, sagt sie, bemüht, zuversichtlich zu klingen. Sie gehen weiter, bis Asha vor einer Hütte stehen bleibt, wo eine Frau in einem mattgrünen Sari steht. Sie hält ein Baby auf der Hüfte, und zwei andere, etwas ältere Kinder klammern sich an ihren Beinen fest. Ihr linker Arm ist zwischen dem Rand der Saribluse und dem Ellbogen mit schwärzlichen Blutergüssen übersät. Die Frau rührt immer mal wieder in einem Topf auf dem Feuer und schiebt dem Baby mit den Fingern Reis in den Mund. »Ob sie mit uns spricht?«, fragt Asha Parag. Sie sieht zu,wie die beiden kurz miteinander reden, dann macht die Frau eine Geste mit Händen und Mund.
    »Sie will wissen, ob du ihr irgendwas gibst … Geld oder was zu essen«, sagt Parag. Asha zieht einen Fünfzig-Rupien-Schein aus der Tasche und hält ihn hin. Die Frau steckt ihn in die Falten ihres Saris. Sie

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