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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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aus allen Nähten platzenden Stadt war dem gewaltigen Migrantenzustrom nicht gewachsen, und so entstand Dharavi, dieser riesige Slum,wo Elend und menschlicher Einfallsreichtum miteinander wetteifern. Asha kennt den historischen Hintergrund, hat Statistiken und Zahlen gesammelt. Der Rahmen ihres Artikels steht, aber es fehlt noch der menschliche Faktor. Die persönlichen Geschichten, die sie in ihren Interviews erfährt, werden den Unterschied ausmachen zwischen einem packenden Feature und einem Nullachtfünfzehnbericht.
    »Du willst die Interviews aufnehmen, oder?«, fragt Meena.
    »Ja. Hiermit.« Asha nimmt ihre Videokamera. »Wenn du so nett wärst, sie zu bedienen. So kann ich anschließend von den Aufnahmen ein paar Standbilder verwenden, wenn ich möchte.«
    »Ich nehme auch das hier mit«, sagt Meena und greift nach einer Tasche mit Sachen, auf denen der Times – Schriftzug prangt – Notizblöcke, Stifte, Stoffbeutel. »Falls jemand ein bisschen Überredung braucht.«
    Wie sich herausstellt, genügen drei Fremde, um eine ganze Schar von Leuten anzulocken, und Asha muss rasch entscheiden, mit wem sie zuerst sprechen will. Ein junges Mädchen mit durchdringenden Augen weckt ihr Interesse, und sie deutet auf die Kleine. Meena schaltet die Kamera ein, und Parag geht zu dem Mädchen. Sie sieht aus, als wäre sie höchstens zwei Jahre alt, trägt ein schlichtes beigefarbenes Baumwollkleidchen und hat eine Kordel um den Hals hängen. Sie ist barfuß und hat kurz geschorenes Haar. Sie hält die Hand eines älteren Mädchens mit Zöpfen, dessen mattgoldener Nasenring sich deutlich von ihrer dunklen Haut abhebt.
    »Das ist Bina, mit ihrer kleinen Schwester Yashoda«, übersetzt Parag für Asha, die die Kinder anlächelt und indie Hocke geht, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sein. »Bina ist zwölf Jahre alt und Yashoda ist drei.«
    »Wie lange sind sie schon hier, woher kommen sie?« Asha streckt der Kleinen eine Hand hin. Parag übersetzt, und Bina antwortet prompt mit einer selbstbewussten, hohen Stimme.
    »Sie sagt, sie sind kurz vor der letzten Monsunzeit hergekommen, also vor ungefähr acht oder neun Monaten. Sie haben für die Reise aus ihrem Dorf zwei Nächte gebraucht«, sagt Parag.
    Yashoda spielt jetzt mit den Ringen an Ashas Finger, dreht sie immerzu herum. »Frag sie nach ihrer Familie. Was machen ihre Eltern?«, sagt Asha.
    »Ihre Mutter ist Hausbedienstete, ihr Vater arbeitet in einer Kleiderfabrik. Sie haben drei Brüder – der Älteste arbeitet zusammen mit dem Vater, und die zwei Jüngeren gehen zur Schule.«
    Asha blickt von ihrem Notizbuch auf. »Wieso geht sie nicht auch zur Schule? Bina?« Parag starrt Asha schweigend an. »Frag sie. Frag sie, warum sie nicht in der Schule ist.« Asha sieht, wie Parag einen Moment zögert, dann Meena einen kurzen Blick zuwirft, ehe er sich schließlich an Bina wendet. Als er die Frage stellt, blickt Bina Asha an und schaut dann nach unten auf ihre Füße. Sie antwortet kurz, und Parag übersetzt: »Sie muss auf ihre Schwester aufpassen, das Essen kochen und die Wäsche waschen.« Asha ist zwar nicht gerade zufrieden mit der Antwort, doch der Blick, den Parag und Bina wechseln, verrät ihr, dass sie nicht mehr herausbekommen wird.
    »Frag sie, warum ihre Schwester so kurze Haare hat«, sagt Asha und streicht der Kleinen über den Kopf.
    »Wahrscheinlich weil –«, setzt Parag an.
    »Nein, frag sie bitte. Ich möchte sie antworten hören.«

    Er wendet sich an Bina, spricht, hört zu und sieht dann wieder Asha an. »Sie sagt, es hat ein Problem mit Läusen gegeben«, sagt Parag leise. Bina schaut wieder auf ihre Füße, tritt von einem Bein aufs andere. Asha schluckt schwer. Yashoda betrachtet Asha noch immer mit zutraulichen Augen und lässt eine Hand hin und her baumeln.
    »Moment«, sagt Asha und versucht, sich einen der Ringe von den Fingern zu ziehen, die von der Hitze geschwollen sind. Schließlich schafft sie es, den am kleinen Finger zu lockern, einen schmalen Silberring mit einem kleinen lila Stein, und hält ihn Yashoda hin. Die Kleine blickt ihre Schwester an, dann wieder Asha. Sie schnappt sich den Ring voller Freude und schlingt die Arme um Ashas Hals.
    »Danke, dass du mit uns gesprochen hast«, sagt Asha zu Bina und richtet sich wieder auf. Parag übersetzt, und Bina nickt ihr mit einem schüchternen Lächeln zu. Erst jetzt lässt Asha Yashodas kleine Hand los.
    Asha gibt Parag und Meena ein Zeichen, und sie gehen weiter durch die Siedlung. Eine müde

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