Geheime Tochter
Geschichten gefunden, die ganz typisch sind für das Leben in Dharavi. Hat irgendwas gefehlt, irgendwas, was du beim nächsten Mal angehen möchtest?«
»Wir haben nicht mit einem einzigen Jungen gesprochen. Auch nicht mit Männern. Ich habe eigentlich überhaupt keine gesehen.« Asha blickt zum Fenster hinaus auf die überfüllten Bürgersteige. »Jedes Mal, wenn ich draußen unterwegs bin, sind die Straßen voller Männer, aber heute in Dharavi haben wir ausschließlich Frauen gesehen. Wie kann das sein?«
»Asha«, sagt Meena, »genau wie es zwei Indien für Reiche und Arme gibt, gibt es zwei Indien für Männer und Frauen. Die Domäne der Frau ist das Haus – sie kümmert sich um die Familie, sagt den Bediensteten, was sie zu tun haben. Die Domäne des Mannes ist die Welt da draußen – arbeiten, im Restaurant essen. Deshalb fühlst du dich hier als Frau auf der Straße schon mal leicht, als würdest du einer Minderheit angehören. Die Männer sind diejenigen, die draußen unterwegs sind. Und manchmal verspotten sie diejenigen von uns, die sich nach draußen trauen.«
Asha denkt an die Pfiffe, die sie manchmal verfolgen, wenn sie durch die Straßen geht, an die lüsternen Männerblicke, bei denen sie am liebsten die Selbstverteidigungstricks anwenden würde, die sie in einem Workshop an der Uni gelernt hat.
»Aber es ist nicht nur die Wahrnehmung, es ist auch eine Tatsache. Wir sind eine Minderheit in diesem Land. Du weißt ja, wie die Geburtenraten in Indien aus dem Lot gekommen sind, nicht? Auf tausend neugeborene Jungen kommen nur neunhundertfünfzig Mädchen.« Meena blickt geradeaus. »Mutter Indien liebt ihre Kinder nicht gleich stark, wie es scheint.«
42
Reue
Mumbai, Indien – 2004
Jasu
Jasu wird am Morgen wach und fühlt sich schon erschöpft, obwohl sein Tag noch nicht mal angefangen hat. Letzte Nacht ist er wieder in Panik aus dem Schlaf aufgeschreckt, ist im Bett hochgefahren, die Arme nach der trügerischen Schaufel ausgestreckt, die immer verschwindet, wenn er die Augen öffnet. Er keuchte, sein Herz raste, Gesicht und Brust waren schweißnass. Kavita legte ihm einen kalten Lappen auf die Stirn und versuchte, ihn mit beruhigenden Worten wieder zum Einschlafen zu bringen. Aber egal, was sie macht, und egal, womit er sich selbst zu beruhigen versucht, es reicht nie. Er wird dem Tempel heute auf dem Weg zur Arbeit einen Besuch abstatten müssen.
Er rennt hinter dem anfahrenden Zug her und springt auf. Heute Morgen spürt er sein Alter und einen Moment lang fürchtet er, er könnte von der unteren Trittstufe des Zuges abrutschen. Kaum zu glauben, dass er mit diesem Zug fast jeden Tag gefahren ist, seit er vor vierzehn Jahren nach Mumbai kam. Ihn schaudert bei der Erinnerung daran, wie wenig er damals über das Leben in dieser Stadt und über die Entbehrungen wusste, denen er ausgesetzt sein würde. Manchmal sieht er sich selbst in den Gesichtern der Neuankömmlinge: Männer, die in ihrer Bauernkleidung jeden Tag in der Textilfabrik auftauchen undnach Arbeit fragen. Als Vorarbeiter ist es jetzt er, der so viele von ihnen wegschicken muss, obwohl er weiß, dass ihre Familien aufgrund seiner Entscheidung vielleicht am Abend nichts zu essen haben. Wenn er diesen Männern in die Augen sieht, erkennt Jasu den Druck wieder, unter dem sie stehen, und die Ängste, die sie durchmachen. Sie alle sind wie er damals in der Erwartung gekommen, diese Stadt werde ihnen ein angenehmes und sorgloses Leben bescheren, doch stattdessen haben sie etwas ganz anderes gefunden.
Letzte Woche ist ein junger Mann in einem zerlumpten Hemd und barfuß zur Fabrik gekommen. Hinter ihm standen seine vier Kinder und seine schwangere Frau. Sie hätten kein Dach über dem Kopf, sagte er zu Jasu. Er brach fast zusammen, als Jasu ihm sagte, dass es keine Arbeit in der Fabrik gebe. »Bitte, Sahib, bitte«, bettelte er und sprach besonders leise, damit seine Familie seine Verzweiflung nicht hörte. »Ich mache alles, egal was. Boden fegen? Toiletten putzen?« Er hob die zusammengelegten Hände vors Gesicht, als würde er beten. Jasu hätte ihm Arbeit gegeben, wenn er gekonnt hätte, aber selbst als Vorarbeiter waren ihm die Hände gebunden. Er gab dem Mann fünfzig Rupien und sagte ihm, er solle in einem Monat wiederkommen. Er fühlt sich mies, wenn er diese Männer sieht, aber noch mehr ist er froh, dass ihm ihr Schicksal erspart geblieben ist. Fast fünfzehn Jahre nachdem er sein Heimatdorf verlassen hat und in diese fremde
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