Geheime Tochter
Stadt gekommen ist, hat er einen guten Job, ein regelmäßiges Einkommen, eine anständige Wohnung. Er hat hart dafür gearbeitet, aber im Grunde weiß er, dass er auch viel Glück gehabt hat.
Einige Male hätte es gehörig schiefgehen können. Die Verletzung, die er sich vor Jahren zuzog, hätte erheblichschlimmer ausfallen können. Er hätte eine Hand oder einen Fuß verlieren können, wie so viele andere, und wäre gezwungen gewesen, sich zu den Scharen verkrüppelter Bettler auf der Straße zu gesellen. Das eine Mal, als er nach dem Unfall in der Fabrik nicht arbeiten konnte, wäre er um ein Haar dem Alkohol verfallen. Er hätte das wenige Geld seiner Familie versoffen und sein eigenes Leben vergeudet, wenn Kavita nicht gewesen wäre. Über die Jahre ist ihm immer klarer geworden, dass das Wohlergehen seiner Familie größtenteils ihr zu verdanken ist – ihrer Kraft, ihrer Liebe, ihrem Vertrauen in ihn. Wenn sie mehr Kinder gehabt hätten, wäre es ihm vielleicht so ergangen wie dem Mann in dem zerlumpten Hemd, der aus Verzweiflung für ein paar Rupien jede Drecksarbeit gemacht hätte. Klar, wenn sie mehr Kinder gehabt hätten, hätte er vielleicht nicht alle seine Hoffnungen in Vijay gesetzt, der inzwischen auf die schiefe Bahn geraten war. Er denkt an all die Entscheidungen, die sie seit Vijays Geburt getroffen haben, die meisten davon im Interesse ihres Sohnes, und ihm fällt keine einzige ein, die er bereut. Er hat alles so gemacht, wie er es als Vater für richtig hielt, und dennoch hat Vijay sich als Enttäuschung entpuppt. Immer hat er gedacht, er wüsste, was das Beste für seine Familie ist, aber Alter und Erfahrung haben ihn demütig gemacht.
Am Bahnhof Vikhroli springt Jasu vom Zug und geht die zwei Blocks zu dem kleinen Tempel zu Fuß. Wenn er nachts einen seiner Albträume hat, zieht es ihn oft hierher, in letzter Zeit alle paar Tage. Es ist ein schlichter Tempel – von außen unterscheidet er sich nicht von den anderen Gebäuden in der Nachbarschaft. Jasu lässt seine Slipper draußen vor der Tür stehen und geht vorbei an dem weißen Marmorbrunnen am Eingang. Als er sich auf den Boden kniet und die Augen schließt, wandern seineGedanken zurück zu der einen Entscheidung, die er doch bereut: die schreckliche Nacht, als Kavita ihr erstes Baby zur Welt brachte. Es war nur ein kurzer Moment, die Entscheidung fiel im Bruchteil einer Sekunde, und doch verfolgt sie ihn noch zwanzig Jahre später. Er erinnert sich, wie er das sich windende Baby in den Händen hielt und Kavitas Schreie hörte, als er mit ihm wegging. Er gab die Kleine seinem Cousin, der sie so schnell wie möglich loswerden würde, das war unausgesprochen klar. Jasu hockte sich draußen vor die Hütte, rauchte ein bidi und wartete.
Als er seinen Cousin mit einer Schaufel in der Hand aus dem Wald zurückkommen sah, wusste er, dass es vorbei war. Ihre Blicke trafen sich nur für einen Moment und teilten ein entsetzliches Wissen miteinander. Jasu erfuhr nie, wo das Baby begraben worden war. Er wusste, sein Cousin verriet es ihm nicht, weil er glaubte, es wäre Jasu egal. In Wahrheit fragte Jasu ihn nicht, weil er es nicht ertragen hätte, es zu wissen. Er hatte getan, was von ihm erwartet worden war, was seine Cousins getan hatten und was seine Brüder tun würden. Er hatte es kaum als echte Entscheidung wahrgenommen, bis er seinen Cousin mit der Schaufel zurückkommen sah, dann jedoch traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht.
Viele Jahre wollte er sich nicht eingestehen, dass das, was er getan hatte, falsch gewesen war, doch es hatte sehr lange gedauert, bis er wieder in Kavitas verletzte Augen schauen konnte. Gott allein ersparte es ihm, beim zweiten Kind dieselbe Sünde noch einmal zu begehen. Als die Hebamme ihm sagte, dass die Kleine vor Schwäche die erste Nacht nicht überstanden hatte und im Schlaf gestorben war, empfand er Erleichterung. Nicht einmal diese Gnade konnte Kavitas tiefe Trauer mildern. Und trotzdem hatte er nicht die Kraft gehabt, sie gegen die unaufhörliche Kritik seiner Familie zu schützen. Zwei Töchter bedeutet, sie hat in ihrem früheren Leben gesündigt , sagten seine Eltern. Sie wollten, dass er sie vor die Tür setzte, sich eine neue Frau suchte. Sie zwangen ihn bei der dritten Schwangerschaft, mit ihr zu der Ultraschalluntersuchung zu gehen, und gaben ihm das Geld, um, falls nötig, gleich vor Ort eine Abtreibung machen zu lassen. Da wusste er, dass sie irgendwann aus dem Haus seiner Eltern ausziehen
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