Geheime Tochter
klatschten ihr beim Gehen gegen die Fußsohlen. Alle paar Schritte schirmte sie mit der Hand die Augen vor dem Sonnenlicht auf der gleißenden Wasseroberfläche ab. »Und da vorne war der Kindergarten, in den die Jungs gingen. Die Leiterin war eine nette Nonne, Schwester Carmine.« Während sie unterwegs waren, wandten sie die Augen von den Leuten ab, die entlang derUfermauer defäkierten, und von den halb nackten Kindern, die ihnen bettelnd die Hände entgegenstreckten.
Am zweiten Tag überredete Asha Dadima, ihr Ersatzpaar Laufschuhe anzuprobieren, und wie durch ein Wunder hatten sie dieselbe Größe. Sobald sie sich an das Gefühl gewöhnt hatte, dass ihre Füße ganz umschlossen waren, sagte Dadima, sie fände die Schuhe bequem, und erklärte sich bereit, sie als ihre eigenen anzunehmen. Sie weigerte sich jedoch, die Baseballmütze zu tragen, die Asha ihr anbot, sondern legte sich lieber den Sari züchtig über den Kopf, obwohl er nur minimalen Schutz vor der Sonne bot. Dadima argumentierte, dass sich die Schuhe immerhin unter dem langen Sari verbergen ließen. Wenn die Leute sie mit so einer Mütze sähen, würden sie garantiert denken, sie hätte den Verstand verloren. Sie erklärte, in ihrem Alter würden ohnehin schon alle ständig nach irgendwelchen Anzeichen dafür suchen, und sie musste ihnen ja nicht noch mehr Beweise liefern. Auf diesem Spaziergang und auf dem nächsten stellte Dadima Asha Fragen nach ihrem Leben in Amerika. Asha erzählte ausführlich von der Uni, ihren Seminaren, der Studentenzeitung und von ihren Freunden. Sie war sich nicht sicher, wie viel Dadima verstand, obwohl sie gut Englisch sprach, aber sie kamen aus unterschiedlichen Kulturen und gehörten verschiedenen Generationen an, und sie nickte die ganze Zeit, ohne je nachzufragen. Aber später, als ihre Großmutter auf eine Kleinigkeit Bezug nahm, die sie erwähnt hatte, wusste Asha, dass ihr nichts entgangen war.
Am vierten Tag, irgendwo zwischen den Straßenverkäufern, die gerösteten Mais verkauften, und denen, die frische Kokosnüsse mit Macheten aufhackten, erzählte Dadima die Geschichte ihrer Schwiegermutter. Sie schilderte, wie die alte Frau mit ihr, als frisch vermählter Braut,in die Küche ging, um ihr beizubringen, Auberginencurry genauso zuzubereiten, wie ihr Sohn es am liebsten mochte. »Das war zu viel für mich«, sagte Dadima. »Ich hatte mich gerade erst von meiner Familie verabschiedet, und jetzt wollte sie mir auch noch erzählen, wie baingan bharta gekocht wird. Als wenn ich das nicht wüsste! Ich hatte es zahllose Male mit meiner Mutter zubereitet. Sie machte das beste baingan bharta im ganzen Viertel.«
»Und, was ist dann passiert?«, fragte Asha.
»Ich habe die Küche verlassen und mich in unserem Zimmer verkrochen. Stundenlang. Ich konnte damals ganz schön stur sein.« Sie lachte leise. »Jedenfalls, irgendwann kam sie dann zu mir. Sie meinte, ich solle zurück in die Küche kommen und ihr zeigen, wie ich baingan bharta machte. Sie sagte, es sei jetzt meine Küche, wo ich kochen könne, wie ich wolle. So eine Frau war sie. So unglaublich großzügig gegenüber anderen. Kein bisschen egoistisch.« Asha war überrascht, mit welcher Zuneigung und Achtung Dadima über ihre Schwiegermutter sprach, nachdem sie von so vielen Leuten gehört hatte, wie schwierig sich gerade diese Beziehung oft gestaltet.
»In den Tempel da ist sie jeden Tag gegangen«, sagte Dadima, als sie ein paar Querstraßen von der Wohnung entfernt an einer unscheinbaren weißen Fassade vorbeikamen. »Komm, ich zeige ihn dir.« Asha war noch nie in einem Tempel gewesen, daher folgte sie Dadimas Beispiel und zog sich vor dem Eingang die Laufschuhe aus. Der Innenraum war schlicht und mit ein paar Statuen von verschiedenen Hindu-Gottheiten ausgestattet. Vor einer Statue mit dem Kopf eines Elefanten blieb Dadima einige Momente lang stehen, mit geschlossenen Augen und aneinandergelegten Handflächen. »Ganesh«, flüsterte Dadima ihr zu, »Entferner von Hindernissen.« Dann trat sievor, fuhr mit der geöffneten rechten Hand über einen Stahlteller, auf dem eine kleine Flamme brannte, nahm eine Handvoll Erdnüsse und Kristallzucker und bot Asha das Gleiche an.
Draußen lieferte Dadima eine ausführlichere Erklärung. »In meiner Familie vollzogen wir die Zeremonie zur Verehrung der Götter täglich zu Hause und gingen nur an den großen Festtagen in den Tempel. In den Mahalaxmi-Tempel – den musst du dir angucken, während du hier bist –,
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