Geheime Tochter
zurückgelassen und –«
»Wie ging die Sache aus?«, fragte Asha.
»Oh, er hat es geschafft, wenn auch ein bisschen mitgenommen, aber er hat den letzten Koffer gefunden. Und wir sind natürlich sicher im Hafen angekommen«, sagte sie aufs Wasser deutend.
»Und dein Vater?«
» Bapu kam ein paar Wochen später nach. Wir warenalle wieder vereint nach der Teilung. Wir hatten mehr Glück als viele andere«, sagte sie leise. »Aber mein Vater hatte sich verändert, nachdem wir Karatschi verlassen hatten. Ich glaube, ihm war weh ums Herz, weil er die Stadt, die er liebte, und das Geschäft, das er so mühevoll aufgebaut hatte, zurücklassen musste. Er war nie wieder ganz der Alte.« Sie schwiegen den Rest des Weges.
Als Asha sich heute Morgen die Schuhe zubindet, hofft sie, ein wenig über ihre eigene Geschichte zu erfahren. Ihre Eltern hatten selten von ihrer Geburt oder ihrer Adoption in Indien gesprochen, und wenn doch, wiederholten sie immer nur dieselben Einzelheiten. Sie war gleich nach ihrer Geburt ins Waisenhaus gekommen, einer Einrichtung namens Shanti. Dort blieb sie, bis sie ein Jahr alt war. Dann kamen ihre Eltern nach Indien, adoptierten sie und nahmen sie mit nach Kalifornien. Das ist alles, was Asha je über ihre Herkunft erfahren hat. Sie ist nicht sicher, ob Dadima ihr mehr erzählen wird, aber heute will sie ihren ganzen Mut zusammennehmen und sie fragen.
»Guten Morgen, beti «, begrüßt Dadima sie, als sie ins Wohnzimmer kommt. »Heute kann ich wieder mit dir Schritt halten«, sagt sie lächelnd. »Die lästigen Knieschmerzen sind wie weggeblasen.«
Asha findet, dass ihre Großmutter jünger aussieht, wenn sie lächelt. Manchmal vergisst sie, dass sie es mit einer alten Frau zu tun hat, aber dann erwähnt Dadima irgendetwas, wie beispielsweise, dass ihre Familie den ersten Kühlschrank im ganzen Haus hatte, und Asha begreift wieder, was ihre Großmutter schon alles erlebt hat. »Schön, dann kann’s ja losgehen. Ist der für mich?«, fragt Asha und hebt den Unterteller von einer Tasse mit heißem chai . Sie hatte früher nie etwas übrig für indischen Tee, fand ihn zu starkund zu süß. Doch so wie Dadima ihn zubereitet, mit einer Prise Kardamom und frischen Minzeblättern, ist er genau das Richtige für einen guten Start in den Tag.
Es ist ein herrlicher Morgen. Die Luft ist ungewöhnlich frisch, mit einer leichten Brise, die über das Meer auf die Promenade weht.
»Du siehst Indien zum ersten Mal mit zwanzig, beti «, sagt Dadima. »Wie findest du es?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fährt sie fort: »Weißt du, dein Vater war nicht viel älter als du, als er nach Amerika ging. Oh, er war so jung damals. Er wusste nicht, wie schwer es für ihn werden würde.«
»Ich weiß. Er hat oft erzählt, wie er fürs Medizinstudium gebüffelt hat. Er meint, ich tue zu wenig für die Uni«, sagt Asha.
»Das Studium ist ihm nicht schwergefallen. Er war immer ein gescheiter Junge. Klassenbester in der Schule, Kapitän der Cricketmannschaft, immer die besten Noten. Nein, darum habe ich mir nie Sorgen gemacht. Ich wusste, dass er an der Universität gut klarkommen würde. Aber alles andere hat mir schlaflose Nächte bereitet. Er kannte doch niemanden da drüben. Er hatte Heimweh. Er fand nirgendwo gutes indisches Essen. Die Leute verstanden ihn am Anfang wegen seines Akzentes nicht. Seine Dozenten baten ihn zwei-, dreimal, seine Antworten zu wiederholen. Das war ihm jedes Mal peinlich. Dann hat er sich Kassetten angehört, um zu lernen, wie ein Amerikaner zu sprechen.«
»Tatsächlich?« Asha versucht, sich vorzustellen, wie ihr Vater Kassetten hört, Wörter nachspricht.
» Hahnji , ja. Es war sehr schwierig für ihn. Am Anfang hat er uns alles ausführlich erzählt, wenn er anrief, abermit der Zeit erfuhren wir immer weniger von ihm. Ich glaube, er wollte nicht, dass wir uns Sorgen machen.«
»Und? Hast du dir Sorgen gemacht?«
» Hahnji , natürlich! Diese Last trägt eine Mutter ihr ganzes Leben mit sich herum. Bis ich die Augen schließe, wird kein Tag vergehen, an dem ich mich nicht um meine Kinder und Enkelkinder sorge, da bin ich ganz sicher. Das gehört zum Muttersein dazu. Das ist mein karma .«
Asha denkt darüber nach und schweigt eine Weile.
»Ist etwas nicht in Ordnung, beti? «, fragt Dadima.
»Ich habe bloß gerade an meine Mutter gedacht. Meine, na ja, leibliche Mutter. Ich habe mich gefragt, ob sie je an mich denkt, sich um mich sorgt.«
Dadima nimmt ihre Hand und hält sie
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