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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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ein wunderschöner Tempel, sehr groß, aus ganz Mumbai kommen die Leute dorthin. Jedenfalls, nachdem ich geheiratet hatte und hierher gezogen war, bin ich immer mit meiner sassu in diesen kleinen mandir gegangen. In jedem noch so kleinen Viertel der Stadt steht so einer. Die Leute gehen morgens auf einen Sprung hinein, auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Nachhauseweg. Ich finde, er verleiht meinem Tag ein kleines bisschen Frieden.«
    »Dadima? Ich hoffe, du hältst mich nicht für ungehobelt«, sagte Asha am fünften Tag. »Wieso sprichst du so gut Englisch? Die meisten anderen Leute in deinem Alter bei uns im Haus können anscheinend nur ein paar Brocken.«
    Dadima lachte leise. »Das verdanke ich meinem Vater. Er liebte England. Als alle anderen immer nur die Briten für Indiens Probleme verantwortlich machten, bestand mein Vater darauf, dass ich Englisch lernte. Er war ein fortschrittlicher Mann, mein Vater. Er hat mich erst aufs College geschickt, ehe er irgendwelchen jungen Männern erlaubte, um meine Hand anzuhalten. Er war seiner Zeit voraus, mein bapu «, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln. »Er wusste den Wert einer Frau wirklich zu schätzen. Er hat meine Mutter immer auf Händen getragen.«
    Und so ging es weiter. Dadima erzählte häppchenweise ihre Geschichten, die sie mit jedem weiteren Tagaus immer tieferen Ecken ihres Gedächtnisses hervorkramte. Asha lernte die schwierige Kunst, eine gute Zuhörerin zu sein, also gerade genug Fragen zu stellen, damit Dadima weitererzählte, ohne dass der Fluss ihrer Erinnerungen gestört wurde. Nach einer Woche gemeinsamer Morgenspaziergänge begann Dadima, von der Migration ihrer Familie nach der Teilung des Landes in Indien und Pakistan zu erzählen, die mit der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft 1947 einherging. Dadimas Familie hatte in Karatschi gelebt, der Hauptstadt der nordindischen Provinz Sindh. Ihr Vater betrieb ein florierendes Weizenexportgeschäft und reiste häufig in den Nahen Osten und nach Ostafrika. Sie hatten ein schönes Haus, zwei Autos und mehrere Hundert Hektar Land, also reichlich Platz zum Spielen für Dadima und ihre Geschwister. Das alles mussten sie zurücklassen, als sie gezwungen wurden fortzugehen.
    Karatschi wurde die Hauptstadt Pakistans, des neuen muslimischen Staates. Die Briten zogen ihre Grenzen auf der Karte Südasiens neu, ohne Rücksicht auf die Menschen, die auf der falschen Seite lebten und gezwungen wurden, ihre Häuser und Geschäfte aufzugeben und ihre Familien zu entwurzeln, um die Reise auf die richtige Seite der Grenze anzutreten. Dadimas Familie zog wie so viele Hindus in Karatschi nach Bombay. Ihr Vater blieb zurück, um sein Geschäft zu schließen und möglichst viel von ihrem Vermögen zu retten, während Dadima und ihre Geschwister mit der Mutter per Schiff nach Bombay fuhren. Sie hatten das Glück, sich eine Schiffspassage leisten zu können, denn diejenigen, die mit Bus oder Zug fuhren, gerieten in blutige Auseinandersetzungen mit andersgläubigen Reisenden, die in die entgegengesetzte Richtung fuhren.

    »Mein Bruder war damals erst vierzehn, fünf Jahre jünger als ich«, erzählte Dadima, »aber als ältester Junge in der Familie vertrat er meinen Vater. Er passte während der Reise auf uns auf. Als das Schiff in Hafennähe war, wurden wir für das letzte Stück bis ans Ufer in ein Dingi verfrachtet. Und so glitten wir, meine Mutter und die vier Kinder, auf die Lichter dieser Stadt zu, wo wir keine Menschenseele kannten. Plötzlich stand mein Bruder auf und fing an, in Richtung des Schiffes zu brüllen und mit den Armen zu wedeln. Er hatte unsere Koffer gezählt – wir hatten zehn dabei –, und als er sie alle durchzählte, stellte er fest, dass einer fehlte. Mein Bruder wollte zurück zum Schiff und den letzten Koffer holen. Er würde das allein machen müssen. Das war alles, was uns auf der Welt geblieben war, diese Koffer.« Dadima schüttelte den Kopf bei der Erinnerung. »Meine Mutter hatte große Angst. Sie wollte ihn nicht zurücklassen. Es war dunkel, und es war ein riesiges Schiff. Es war ungewiss, ob er den Koffer finden würde oder ob er es damit zu uns zurückschaffen würde. Er war erst vierzehn, aber er wusste, dass unser Vater ihm die Verantwortung für die Familie anvertraut hatte. Meine Mutter weinte und betete die ganze Zeit, die er fort war. Ich begann, mich zu fragen, was passieren würde, wenn er nicht wiederkäme. Wir hatten doch schon meinen bapu in Karatschi

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