Geheime Tochter
würden, selbst wenn das bedeutete, Dahanu verlassen zu müssen, ganz gleich, welche Risiken damit verbunden wären. Er wollte nicht zwischen der Loyalität gegenüber seinen Eltern und der Fürsorge für seine Frau entscheiden müssen, aber sie ließen ihm keine Wahl. Und obwohl sie sich nach Vijays Geburt wieder beruhigten, sah Jasu sie fortan mit anderen Augen. Noch heute kann er, wenn er und Kavita im Dorf zu Besuch sind, seinen Cousin nicht ansehen, ohne von der Vision eingeholt zu werden, wie er mit der Schaufel in der Hand aus dem Wald kommt.
Er und Kavita haben nie über diese Nacht gesprochen, nicht ein einziges Mal. Dazu war er zu stolz und gleichzeitig zu beschämt. Aber Jasu weiß, dass ihn seine Tat in den Augen seiner Frau und wahrscheinlich auch in denen Gottes zum Ungeheuer gemacht hatte. Er hat viele Jahre seines Lebens versucht, die Nacht damals wiedergutzumachen, Kavita zu zeigen, dass er ein guter Mensch sein kann, und Gott zu beweisen, dass er seiner Familie würdig ist. Er weiß, dass er die Sünde, die er begangen hat, nicht ungeschehen machen kann. Aber er hat mit aller Kraft versucht, sie zu einem Teil seiner Vergangenheit zu machen und eine neue Zukunft aufzubauen: eine neue Stadt, ein neues Zuhause, eine neue Arbeit. All das hat ihn einigermaßen stolz gemacht, doch es konnte die Schuld nicht tilgen, die sein Herz noch immer belastet. Eine Zeitlang hatten die Albträume aufgehört, während der paar Jahre, als endlich alles gut lief. Dann kam der schreckliche Abend, als die Polizei ihre Wohnung durchsuchte.
Die Albträume fingen wieder an und sind schlimmer geworden, seit Vijay krumme Sachen macht und Jasu einsehen musste, dass sein Sohn, auf den er doch immer so stolz war, die größte Enttäuschung seines Lebens geworden ist.
43
Marine Drive
Mumbai, Indien – 2004
Asha
Asha hört das kehlige Gurren draußen vor dem Fenster, und als sie sich umdreht, sieht sie das Morgenlicht hinter den dunklen Baumwollvorhängen schimmern. Sie rollt sich herum und drückt den Rücken durch, reckt und streckt sich mit einem dazugehörigen Seufzen. Trotz des laut summenden Klimageräts kann sie hören, dass Dadima wie jeden Morgen Vogelfutter auf dem Balkon ausstreut. Dadima sagt, die Tauben seien nicht nur heilige Geschöpfe, sondern auch die treusten Besucher, leisteten sie ihr doch Morgen für Morgen Gesellschaft, und das schon seit über fünfzig Jahren, seit sie in dieser Wohnung wohne, seit sie Dadaji geheiratet habe und hierher zu ihm und seinen Eltern gezogen sei.
Dadima hat ihre verstorbene Schwiegermutter als sanfte Seele beschrieben, eine fromme Frau, die jeden Morgen in den Tempel um die Ecke ging. Ihre Demut und ihr liebevolles Wesen machten sie sehr viel umgänglicher, als es die meisten sassus waren, und diesem Glücksfall war es Dadimas Meinung nach zu verdanken, dass die ersten Jahre ihrer Ehe einigermaßen glatt verliefen. Nach dem Tod ihrer Schwiegereltern übernahm Dadima den Mantel des Matriarchats in der Thakkar-Sippe. Asha erfuhr diese Einzelheit der Familiengeschichte von ihrer Großmutter, als sie zum vierten Mal mit ihr einen Morgenspaziergangmachte. Und gerade die Aussicht auf solche Gespräche ist es, die Asha jetzt veranlasst, sich zu dieser frühen Stunde aus dem Bett zu quälen.
Am ersten Tag, vor etwa zwei Wochen, war Asha ausnahmsweise früh wach gewesen, weil sie wegen des Feuerwerks in der Nacht zuvor schlecht geschlafen hatte. Als sie an dem Morgen aufstand und mit noch ganz trüben Augen ins Wohnzimmer tappte, sah sie dort zu ihrer Verblüffung Dadima am Tisch sitzen und Tee trinken. »Guten Morgen, beti. Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang? Es weht ein herrlich frisches Lüftchen.« Und so kam es, dass Asha, die zu der Uhrzeit ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, kurzerhand ihre Laufschuhe anzog, ihre Baseballmütze aufsetzte und mit ihrer Großmutter den Marine Drive entlangging, die Promenade, die die Bucht von Mumbai säumt. Es war kein strammer Marsch, da Dadima in ihrem leichten Sari und den chappals eher bedächtig dahinschlurfte, und so brauchten sie bis zum Nariman Point und wieder zurück fast eine Stunde.
Beim ersten Mal wies Dadima sie auf einen kleinen weißen Laden mit einer grünen Markise hin. »Siehst du die Eisdiele da? Dahin ist Dadaji sonntags immer mit deinem Vater und seinen Brüdern gegangen. Das war ihr gemeinsames Ritual, am einzigen Tag, an dem Dadaji nicht ins Krankenhaus ging.« Schlurf, schlurf. Dadimas abgelaufene chappals
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