Geheime Tochter
fest, während sie weitergehen. » Beti «, sagt sie, »ich versichere dir, es vergeht auch im Leben deiner Mutter kein Tag, an dem sie nicht an dich denkt.«
Tränen treten Asha in die Augen. »Dadima? Kannst du dich noch an mich als Baby erinnern?«
»Ob ich mich erinnern kann? Was denn? Hältst du mich schon für so eine verrückte Alte, die nicht mehr alle Sinne beisammenhat? Natürlich kann ich mich erinnern. Du hattest ein kleines Muttermal am Fußknöchel und noch eins ganz oben an der Nase – ja, das da, es ist noch da.« Dadima berührt es leicht mit einem Finger. »Weißt du, bei uns sagt man, wenn du ein Muttermal an der Stirn hast, heißt das, dass du für etwas Großes bestimmt bist.«
Asha muss lachen. »Im Ernst? In Amerika heißt das, du bist für Abdeckcreme bestimmt.«
»Und du hast furchtbar gern Milchreis mit Safran gegessen. An dem Tag, als deine Eltern mit dir aus dem Waisenhaus kamen, hatten wir welchen gekocht, und von da an mussten wir alle zwei Tage wieder welchen kochen, nurfür dich!«, sagt sie. »Dein Vater musste sich richtig umstellen. Er war es gewohnt, dass immer sein Lieblingsessen gekocht wurde, aber sobald du da warst, drehte sich alles nur noch um dich.« Dadima lächelt. »Oh ja, und du hast dich immer gleich auf den Bauch gedreht, wenn wir dich ins Bettchen gelegt haben, hast dich klein zusammengerollt und bist bis zum nächsten Morgen so liegen geblieben.«
»Dadima?«, sagt Asha leise und spürt, wie ihr Herz schneller schlägt.
» Hahnji, beti? «
»Ich … ich glaube, ich würde gern versuchen, meine leiblichen Eltern zu finden.« Asha sieht, wie die alte Frau sich fast unmerklich anspannt und irgendetwas in ihrem Gesicht kurz aufflackert. »Ich habe Mom und Dad wirklich lieb und ich möchte ihnen nicht wehtun, aber … ich habe diesen Wunsch schon sehr lange, solange ich denken kann. Ich möchte einfach wissen, wer sie sind. Ich möchte mehr über mich erfahren. Ich habe das Gefühl, mein Leben ist wie eine Dose voller Geheimnisse, und kein anderer kann sie für mich öffnen.« Asha atmet aus und blickt hinaus aufs Meer.
Nachdem sie wieder lange geschwiegen hat, sagt Dadima: »Ich verstehe, beti .« Eine Welle kracht gegen die Ufermauer, als sie weiterspricht. »Hast du mit deinen Eltern darüber gesprochen?«
Asha schüttelt den Kopf. »Das ist ein heikles Thema bei meiner Mom. Sie versteht das irgendwie nicht, und … ich wollte erst mal sehen, ob es überhaupt möglich ist. In Indien leben eine Milliarde Menschen – was, wenn sie gar nicht wollen, dass ich sie finde? Sie haben mich weggegeben. Damals wollten sie keine Kinder, wieso sollten sie mich also jetzt kennenlernen wollen? Vielleicht ist es besser, ich suche nicht nach ihnen.«
Dadima bleibt stehen, wendet sich ihr zu und legt ihre faltigen Hände links und rechts an Ashas Gesicht. »Wenn du das Gefühl hast, es ist wichtig, dann solltest du es tun. Die Augen, die du hast, sind etwas Besonderes, genau wie du etwas Besonderes bist. Du bist dazu bestimmt, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen können. Das ist deine Gabe. Das, beti , ist dein karma .«
44
Chowpatty Beach
Mumbai, Indien – 2004
Asha
»Wo gehen wir hin?« Asha schlägt einen bemüht lockeren Ton an, als sie die Frage stellt, die sie beschäftigt, seit Sanjay vor drei Tagen angerufen hat. Als sie ihn jetzt auf dem Rücksitz des Taxis ansieht, befindet sie, dass sie seine Attraktivität am Abend der Hochzeit nicht überschätzt hat. Sein Haar ist noch feucht, und sie kann schwachen Seifenduft an ihm riechen.
»Überraschung«, sagt er mit einem Lächeln, die Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt. Nach einigen Minuten sagt er etwas zu dem Taxifahrer, und sie halten an.
»Okay«, sagt sie, nachdem er ihr beim Aussteigen geholfen hat. »Ich bin überrascht. Wo sind wir?«
»Chowpatty Beach. Ich komm am liebsten um diese Zeit hierher, wenn die Sonne gerade untergeht. Im Moment siehst du einen weiten Strand mit viel Platz, aber in einer halben Stunde wird es hier trubelig wie auf einem Jahrmarkt. Ich weiß, es ist ein bisschen kitschig, aber für mich ist das hier eines der Highlights von Mumbai. Du darfst die Stadt nicht verlassen, ohne Chowpatty gesehen zu haben.« Sie gehen zusammen auf den Rand des Wassers zu, versinken bei jedem Schritt mit den Sandalen im Sand.
»Wie kommst du mit deinem Projekt voran?«, fragt Sanjay.
»Ganz gut. Letzte Woche hab ich meine ersten Interviews geführt.«
»Und?« Er setzt sich auf eine Bank
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