Geheime Tochter
und rutscht ein Stück zur Seite.
Asha setzt sich neben ihn und blickt aufs Wasser. »Es war ganz schön hart.«
»Wieso?«
Der Wind wirbelt ihr Haar durcheinander, und sie zieht es auf eine Seite. »Ich weiß nicht, ich fand es einfach so … deprimierend.« Sie hat noch mit niemandem darüber gesprochen, nicht mal mit Meena. »Diese Menschen zu sehen, die Verhältnisse, in denen sie leben, ihre Geschichten zu hören … ich habe mich schrecklich gefühlt. Schuldig.«
»Weswegen?«
»Weil ich ein ganz anderes Leben habe. Ein besseres Leben. Die Kinder dort sind einfach da hineingeboren, weißt du? Sie können nichts dafür. Es scheint so hoffnungslos.«
Sanjay nickt. »Ja. Aber du wirst trotzdem deinen Artikel schreiben, oder?«
»Ich weiß nicht. Ich finde, meine Fragen sind nicht besonders gut. Nach den ersten zwei Interviews habe ich die Fassung verloren. Wo ich auch hingeschaut habe, alles war trostlos. Die Leute bei der Times müssen mich für eine Anfängerin halten. Von Journalisten wird erwartet, dass sie sich am Riemen reißen. Und das habe ich nicht geschafft.«
»Vielleicht. Aber du bist ja schließlich nicht nur Journalistin, oder?«
»Nein, aber –«
»Also«, fällt er ihr ins Wort, »vielleicht musst du das Ganze anders betrachten.« Er nimmt seine Sonnenbrilleab und blickt ihr in die Augen. Sie spürt ein Flattern im Bauch, als er ihre Wange berührt. Er beugt sich zu ihr, und sie schließt die Augen, ehe sie spürt, wie seine Lippen leicht ihr Ohr streifen. »Wunderschön«, flüstert er. Als sie die Augen öffnet, blickt Sanjay übers Wasser, und die orangerote Glut der Sonne versinkt am Horizont.
Wunderschön? Der Sonnenuntergang? Ihre Augen? Sie? So, wie er das gesagt hat, könnte sie glauben, dass es wahr ist. Eine Million Fragen überschlagen sich in ihrem Kopf, aber er kommt ihr mit seiner zuvor.
»Hungrig?«
Sie nickt, kriegt kein Wort heraus.
Sie gehen den Strand hoch zu einem der Imbissstände, die mit dem dunkler werdenden Himmel aufgemacht haben, und Sanjay holt für sie zwei Portionen bhel-puri . Während sie im Stehen essen, schauen sie zu, wie sich Chowpatty verwandelt. Die Lichter am Riesenrad sind angegangen, und es setzt sich langsam in Bewegung. Ein Schlangenbeschwörer lockt mit seiner Flötenmusik Zuschauer an, und ein anderer Mann animiert einen kostümierten Affen zum Tanzen. Sanjay hat einen Arm um ihren Rücken gelegt, während sie an den verschiedenen Attraktionen vorbeischlendern. Als sie zum Riesenrad kommen, sieht er sie an und sagt: »Na?«
»Klar, gern.« Sie steigen in die klapprige Gondel. Das Rad fängt an, sich zu drehen, und sie sieht unter sich ausgebreitet das Lichtermeer und die Sehenswürdigkeiten von Mumbai.
Als sie ganz oben sind, sagt Sanjay: »Also, wie gefällt dir Mumbai? Wie findest du deinen ersten Besuch hier? Ist doch bestimmt alles ganz schön fremd für jemanden, der in den Vereinigten Staaten geboren und aufgewachsen ist.«
»Genau genommen bin ich hier geboren«, sagt Asha. Sie weiß, diese Information ist für ihr Gespräch unerheblich, aber sie möchte sie trotzdem loswerden.
»Im Ernst?«, fragt er. »In Mumbai?«
»Na ja, so genau weiß ich das nicht. Meine Eltern haben mich in einem Waisenhaus hier in Mumbai adoptiert. Ich weiß nicht, wo ich geboren bin. Ich weiß nicht, wer meine … leiblichen Eltern sind.« Sie wartet auf seine Reaktion.
»Bist du neugierig?«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht.« Sie wendet sich von seinen forschenden Augen ab und schaut den Kindern zu, die tief unter ihnen auf geschmückten Ponys reiten. »Ich war neugierig, als ich jünger war, und dann habe ich versucht, es zu verdrängen. Ich hielt es für einen kindischen Traum, aus dem ich rauswachsen würde. Aber jetzt, wo ich hier in Indien bin, ist alles wieder da. Ich habe so viele Fragen. Wie sieht meine Mutter aus? Wer ist mein Vater? Wieso haben sie mich weggegeben? Denken sie an mich?« Asha verstummt, als ihr klar wird, dass sie sich wahrscheinlich leicht verrückt anhört. »Jedenfalls …« Sie schüttelt den Kopf und konzentriert sich auf ein weißes Pony, das mit leuchtend pinkfarbenen Blumengirlanden geschmückt ist.
Sanjay legt eine Hand auf ihre. »Ich finde das nicht kindisch. Ich finde, es ist ein ganz natürlicher Instinkt, wissen zu wollen, wo wir herkommen.«
Sie schweigt weiter, hat das Gefühl, bereits zu viel gesagt zu haben. Als sich das Rad weiterdreht, ist sie enttäuscht und erleichtert zugleich, dass das Gespräch ganz
Weitere Kostenlose Bücher