Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
Sie sich nicht an mich erinnern. Ich war nur Seekadett.«
Den Mann genauer musternd, erkannte Gabriel, dass das, was er auf den ersten Blick für Lumpen gehalten hatte, in Wahrheit eine zerrissene Marine-Uniform war. Die verblasste blaue Jacke hing lose über einer so knochigen Brust, dass sie einem Skelett gehören könnte. Die schmutzigen weißen Hosen waren über Worths Beinen – oder besser dem, was davon noch übrig war – mit ein paar Nadeln festgesteckt worden. Für Strümpfe oder Schuhe hatte er keine Verwendung mehr.
Als Gabriel langsam die Hand hob, um den Gruß zu erwidern, wurde der Mann von einem quälenden Hustenanfall geschüttelt, sodass er beinahe umfiel. Es war klar zu sehen, dass die feuchte Kälte sich tief in seinen Lungen eingenistet hatte. So würde er den kommenden Winter nicht überleben.
Manche Männer sind noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt und manche werden es nie. Andere haben beide Arme und Beine verloren. Sie hocken bettelnd in der Gosse, ihre Uniform und ihr Stolz in Fetzen. Sie werden verspottet, mit Füßen getreten, und die einzige Hoffnung, die ihnen bleibt, ist, dass ein Fremder mit einem Funken christlicher Nächstenliebe einen Penny in ihre Blechtasse wirft.
Als er in Gedanken wieder die anklagende Stimme hörte, schüttelte Gabriel ungläubig den Kopf. Monatelang hatte er Samantha gesucht, doch hier an dieser Straßenecke, in die Augen eines Fremden blickend, hatte er sie schließlich gefunden.
»Sie haben Recht, Kadett Worth. Ich habe mich nicht an Sie erinnert«, gestand er, während er seinen Umhang auszog und ihn dem Mann um die abgemagerten Schultern legte. »Aber jetzt tue ich es wieder.«
Worth blickte mit unverhohlener Verwunderung zu ihm auf, als er zur anderen Straßenseite winkte, einen schrillen Pfiff ausstieß und so die wartende Kutsche zu sich rief.
»Ich kann es nicht fassen, dass ich mich von dir dazu habe überreden lassen«, flüsterte Cecily, als sie mit Estelle die polierten Parkettstufen hinunterstieg, die in den überfüllten Ballsaal von Lady Apsleys elegantem Stadthaus in Mayfair führten. »Ich hätte mich nie von dir nach London schleifen lassen, wenn unsere Kirchengemeinde keinen neuen Hilfspfarrer bekommen hätte.«
»Ledig?«, fragte Estelle.
»Ich fürchte ja. Wobei das, wenn es nach meiner Mutter geht, nicht lange so bleiben wird.«
»Entnehme ich deinem niedergeschlagenen Tonfall, dass du ihn nicht für einen passenden Ehekandidaten hältst?«
»Ganz im Gegenteil. Er ist alles, was in den Augen meiner Familie für einen Ehemann wünschenswert ist. Langweilig. Schwerfällig. Er neigt zu endlosen Vorträgen über die Vorzüge des Züchtens von schwarzgesichtigen Schafen und dem Räuchern von Zungenwurst. Sie wären völlig zufrieden, wenn ich den Rest meines Lebens damit verbringen würde, seine Socken zu stopfen und seine dicken, trägen Kinder aufzuziehen.« Sie seufzte. »Vielleicht sollte ich ihm gestatten, mir den Hof zu machen. Ich habe es nicht besser verdient.«
Noch nicht einmal Cecilys lange Abendhandschuhe konnten den Schmerz mildern, als Estelle sie fest kniff. »Wag es nicht, so etwas Schreckliches auch nur zu denken!«
»Und warum nicht? Was wäre dir lieber, wie ich den Rest meines Lebens verbringe? Mich an deiner Schulter ausweinend? Mich nach einem Mann verzehrend, den ich niemals haben kann?«
»Ich kann nicht vorhersagen, wie du den Rest deines Lebens verbringst«, erklärte Estelle, als sie die unterste Stufe erreichten und sich durch das Gedränge plaudernder Gäste zu schlängeln begannen, »aber ich weiß, wie du den heutigen Abend verbringen wirst. Lächeln, freundlich nicken, tanzen. Und mit völlig vernarrten jungen Männern anregende Gespräche führen, denen Schafe und geräucherte Zungenwurst völlig egal sind.«
»Welches würdige Ereignis begehen wir hier heute eigentlich? Hat Lord Apsleys Pferd wieder ein Rennen in Newmarket gewonnen?« Cecily wusste so gut wie Estelle, dass die gefeierten Gastgeberinnen Londons jede Gelegenheit nutzen, um die langen, öden Monate zwischen den Ballsaisons mit einem Fest zu beleben.
Estelle zuckte mit den Schultern. »Alles, was ich weiß, ist, dass es mit Napoleon und dem Wahrmachen seiner Drohung zu tun hat, England zu blockieren. Lady Apsley hat beschlossen, einen Ball zu Ehren der Offiziere zu geben, die morgen in See stechen, um uns vor einem Schicksal ohne belgische Spitze oder türkische Feigen zu bewahren. Warum betrachtest du den heutigen Abend nicht
Weitere Kostenlose Bücher