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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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bezahlte.
    Bald kannte Sofia alle Frauen, die auf der Straße um sie herum waren. Sie riefen schon, wenn Mariza mit dem Rollstuhl kam, und manchmal setzten sie ihr eins der kleinsten Kinder auf den Schoß, wenn sie etwas erledigen mussten. Sofia saß auch draußen auf der Straße, wenn Mama Lydia und José-Maria sie besuchen kamen.
    Eines Tages holte Mariza sie früher ab. »Jetzt darfst du Mestre Emilio kennen lernen«, sagte sie. »Wer ist das?«, fragte Sofia.
    »Das ist der, der deine neuen Beine macht«, sagte Mariza. Mestre Emilio war in einem Zimmer, das voller Arme, Beine, Füße und Hände war. Zuerst fand Sofia es unheimlich in dem Zimmer. Aber Mestre Emilio war ein Mann, der viel lachte. Er gab ihr die Hand und sagte, dass alles gut werden würde. Er erinnerte sie an Totio. Er würde ihr ein Paar richtig schöne Beine machen, aus Plastik würden sie sein, und sie würde schwarze Schuhe bekommen. Dann nahm er mit Marizas Hilfe vorsichtig die Verbände ab. Zum ersten Mal sah Sofia die Wunden an ihren Knien. Sie waren immer noch nicht verheilt. Ihr wurde schlecht und sie guckte weg. Mestre Emilio hantierte mit einem Maßband und schrieb Zahlen in ein Notizbuch. Dann legten sie die Verbände wieder an.
    »Bald kannst du anfangen gehen zu üben«, sagte Mestre Emilio. »Es wird schwer und anstrengend. Aber du wirst es schaffen.« Sofia nickte.
    »Du willst doch wieder gehen können?«, fragte er. »Ja«, sagte Sofia.
    Aber im tiefsten Innern wusste sie nicht, was sie wollte. Es gab Tage und Nächte, da dachte sie nur an Maria.
    Maria, die tot war, die es nie mehr geben würde. Selbst wenn sie ein Paar künstlicher Beine bekommen würde, sie würde nie wieder rennen, niemals tanzen können. Sie würde Krücken benutzen müssen. Vielleicht war es besser, wenn sie auch starb? Ihre Beine warteten schon auf sie in der Erde.
    Sie sprach mit niemandem über ihre Gedanken. Nicht mit Mama Lydia, nicht mit José-Maria, nicht mit Doktor Raul.
    Eines Tages kam Doktor Raul früh am Morgen in ihr Zimmer.
    »Heute wirst du umziehen«, sagte er. »Wir brauchen das Zimmer für andere Menschen, die kränker sind als du.«
    Wie gewöhnlich hatte er sich neben ihr Bett gehockt.
    »Du wirst gut zurechtkommen«, sagte er. »Niemand macht so schöne Beine wie Mestre Emilio. Jetzt kannst du üben wieder gehen zu lernen.«
    »Fahre ich nach Hause?«, fragte Sofia.
    Doktor Raul schüttelte den Kopf. »Das ist zu weit weg«, antwortete er. »Du musst noch eine Weile in der Stadt bleiben, bis deine Beine fertig sind und du richtig gehen kannst. Es ist zu weit um dich jeden Tag abzuholen.«
    Spät am Nachmittag holte Mariza sie ab. Sie schob sie in dem verrosteten Rollstuhl. Draußen wartete ein Auto auf sie. Sie wurde in das Auto gehoben. »Morgen seh ich dich wieder«, sagte Mariza.
    Das Auto fuhr durch die Stadt. Sofia hatte Angst. Sie wusste nicht, wohin sie kam. Wenn sie nun einfach zwischen all den Menschen verschwand, sie und der Rollstuhl? Niemand würde sie wieder finden. Sie versuchte sich zu merken, welchen Weg sie fuhren. Aber die vielen Straßen der Stadt verwirrten sie. Schließlich wusste sie nicht einmal mehr, in welcher Richtung das Krankenhaus lag.
    Endlich bog das Auto durch ein Tor auf einen Hof ein, um den herum mehrere große Häuser lagen. Das Auto hielt an. Der Fahrer hob Sofia und den Rollstuhl heraus. »Hier wirst du wohnen«, sagte er. »Jeden Morgen wirst du von einem Auto abgeholt und ins Krankenhaus gebracht. Dort lernst du dann wieder gehen.« Das Auto fuhr davon.
    Sofia saß im Rollstuhl. Auf dem Schoß hatte sie eine Apfelsine, die Miranda ihr gegeben hatte.
    Sie sah sich um. Nirgends waren Menschen.
    Sie war allein. Die Sonne ging schon unter.
    Bald war es Nacht.
    Sie war verlassen.
    7.
    Sofia saß die ganze Nacht in ihrem Rollstuhl.
    Über ihrem Kopf leuchtete und flimmerte der Sternenhimmel. Hin und wieder nickte sie eine Weile ein. Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Jedes Mal, wenn sie aus dem unruhigen Schlaf erwachte, fragte sie sich, wo sie war.
    Vergessen, dachte sie. Weggeworfen. Sie brauchen mein Bett im Krankenhaus. Lydia wird mich nie wieder finden.
    Der Rollstuhl wird in der Erde versinken.
    Sofia hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Aber sie hatte Angst, weil sie sich nicht bewegen konnte. Als es dunkel wurde, hatte sie versucht den Stuhl zu bewegen. Aber die Räder waren so verbogen, dass sie sich nicht von der Stelle rührten. Bis zuletzt hatte sie gehofft, jemand werde

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