Geheimnis des Feuers
kommen. Aber als es dunkel wurde und die Geräusche der Stadt schwächer wurden, war ihr klar, dass sie die ganze Nacht draußen sitzen musste.
Sie dachte daran, dass sie sich aus dem Stuhl rutschen lassen und unter einen der Bäume bei dem Haus kriechen könnte. Aber sie blieb sitzen. Es juckte unter den Verbänden an den Knien.
Damit sie sich nicht so allein fühlte, sang sie in der Nacht. Sie dachte, wenn sie richtig laut sang, könnte Maria unter der Erde sie hören, wo sie jetzt war. Sie sang alle Lieder, die ihr einfielen. Sie sang laut und leise, schnell und langsam, wieder und wieder. Das machte ihre Angst vorm Alleinsein kleiner. Es half auch, nicht mehr daran zu denken, was geschehen würde, wenn die Nacht vorbei war.
Sie erinnerte sich daran, wie Hapakatanda mit ihr und Maria, als sie noch ganz klein gewesen waren, manchmal abends die Sterne betrachtet hatte. Er hatte ihnen verschiedene Sternbilder gezeigt, die Tieren glichen, und sie aufgefordert, jede solle sich einen Stern aussuchen. »Für jeden Menschen gibt es einen Stern«, hatte er gesagt. »Er wird uns leuchten, solange wir leben. Wenn ihr einmal sterbt und mit euren Vorfahren lebt, verschwindet der Stern.«
Sofia erinnerte sich daran, dass sie gefragt hatte, ob man auch Sterne begräbt, die vom Himmel fallen. Hapakatanda hatte sich über ihre Frage gewundert. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, sagte er. »Aber das tut man bestimmt.«
Nach der langen Nacht war endlich die Dämmerung gekommen wie ein schwacher hellroter Streifen in der Dunkelheit gleich über dem Horizont. Und plötzlich war es helllichter Tag. Die Stadt war wieder zum Leben erwacht. Aus der Ferne hörte sie Busse und Autos, in einem Haus hatte jemand ein Radio eingeschaltet. Schließlich kam wirklich ein Mensch. Es war eine Frau. Sie war groß und dick. Sie blieb vor Sofias Rollstuhl stehen. »Wer bist du?«, fragte sie. »Warum sitzt du hier?« »Ich heiße Sofia. Ich bin gestern angekommen.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Du solltest erst heute kommen«, sagte sie. »Hast du die ganze Nacht hier gesessen?« Sofia nickte.
Die Frau schlug die Hände zusammen. Sie war böse. »In dem Krankenhaus geht aber auch alles durcheinander«, sagte sie. »Wie konnten sie dich bloß einen Tag zu früh abliefern?« »Ich weiß nicht«, sagte Sofia. »Und du hast die ganze Nacht hier gesessen?« »Ja«, sagte Sofia.
»Armes Kind«, sagte die Frau. »Jetzt zeig ich dir, wo du wohnen wirst. Und dann kriegst du was zu essen. Ich heiße Veronica und ich arbeite hier.« Sie packte den Rollstuhl und begann ihn zu schieben. Die verbogenen Räder holperten über den unebenen Hof. Es ging durch eine weitere Pforte und sie gelangten auf einen zweiten Hof. Dort stand ein langes Gebäude mit einem Gang unter dem überstehenden Dach. Einige Türen waren offen. Vor jeder Tür saß ein Mensch. Sofia sah, dass sie alle sehr alt und krank waren. Viele hatten schmutzige Verbände um verschiedene Körperteile. Manche hatten keine Beine, anderen fehlten Finger oder die ganzen Hände. Es roch schrecklich und Sofia fragte sich, wie sie es hier aushaken sollte. Am Ende des langen Ganges blieb Veronica vor einer geschlossenen Tür stehen. »Hier wirst du wohnen«, sagte sie und öffnete die Tür. Sofia sah in ein finsteres Zimmer. Darin standen zwei alte Stahlbettgestelle ohne Matratzen.
»Ganz allein?«, fragte Sofia.
»Wenn du gehen gelernt hast, darfst du nach Hause zu deiner Mama«, sagte Veronica. »Bald kriegst du was zu essen.«
Sofia ließ sich aus dem Rollstuhl rutschen. So war es wohl, als ich noch klein war und nicht gehen konnte, dachte sie.
Sie kroch über die Schwelle. Dann blieb sie auf dem Fußboden sitzen und sah sich um. Es gab nichts weiter als die Betten im Zimmer. Eine Holzplatte verdeckte ein Eoch in der Wand, wo früher ein Fenster gewesen war. Plötzlich schoss aus einer Ecke eine Ratte hervor und verschwand durch die Tür nach draußen. Sofia rutschte zum Bett. Sie wusste, dass sie nicht kriechen durfte. Dann könnten die Bandagen um ihre Beinstümpfe kaputtgehen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit sich vorwärts zu bewegen, sie musste auf dem Po rutschen. Sie schaffte es auch, sich auf das Bett zu ziehen. Erschöpft streckte sie sich auf den verrosteten Stahlfedern aus. Sie scheuerten in ihrem Rücken und Nacken. Aber sie war sehr müde nach der langen Nacht im Rollstuhl. Sie war zu müde um zu denken und schlief auf der Stelle ein.
Als sie aufwachte, tat ihr der
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