Geheimnis des Feuers
liebsten gesungen. Sie stand wieder!
Benthino gab ihr zwei Krücken.
»Versuch mal einen Schritt zu machen«, sagte er. »Du fällst nicht hin. Du hast die Krücken. Und ich bin hier. Ich fang dich auf, wenn du fällst.«
»Wie soll ich das machen?«, fragte Sofia.
»Wie immer«, sagte Benthino. »Du darfst nicht daran denken, dass es Beine aus Holz sind. Du sollst einfach so gehen wie früher.«
Sie machte einen Schritt. Es war ungewohnt und steif. Als ob sie versuchte auf Stelzen zu gehen. Die Knie taten ihr weh und die Riemen an den Oberschenkeln drückten und scheuerten. Benthino ließ sie los. Er und Emilio stellten sich an die gegenüberliegende Wand.
»Komm her«, rief Benthino. »Geh langsam. Du fällst nicht.«
»Ich kann nicht«, antwortete Sofia.
»Du kannst«, sagte Benthino.
Sie versuchte einen Schritt zu machen. Es war ein Gefühl, als höbe sie etwas sehr Schweres an, das an ihrem Körper hing. Zuerst das eine Bein, dann das andere. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst und Maria den Pfad entlanglaufen. Das nächste Bein. Es anheben, vor das andere setzen, jetzt laufen sie. Sie spielen. Ein neues Spiel, das Sofia sich ausgedacht hat. Das nächste Bein. Ein Schritt vorwärts, mit den Krücken abstützen, das Gleichgewicht finden. Sie wollen mit geschlossenen Augen laufen. So macht sie es immer, wenn sie ein neues Spiel erfindet. Zuerst probiert sie es selbst aus. Dann sagt sie Maria, wie es geht. Der nächste Schritt. Den Holzstock mit dem schwarzen Schuh anheben und vorwärts, die Krücken auf dem Boden abstützen. Sie schließt die Augen und läuft. Aber der Pfad ist feucht. Sie rutscht aus und stolpert, findet keinen Halt. Das nächste Bein. Die Krücken nach vorn, dann den Fuß, den Körper anheben, die Balance halten. Sie öffnet die Augen, sie ist außerhalb des Pfades. Sie steht auf einem Bein, dreht sich um und sieht Maria. Sie weiß, dass sie nicht auftreten darf. Aber es ist schon zu spät. Sofia fiel.
Benthino lachte. Er und Emilio hoben sie auf, sammelten die Krücken ein, befestigten einen Riemen, der sich gelöst hatte. Plötzlich sahen sie, dass Sofia Tränen in den Augen hatte.
»Hast du dir wehgetan?«, fragte Benthino. »Wir haben nur gespielt«, sagte Sofia. »Ich bin gestolpert.«
Benthino verstand nicht, was sie meinte. Er wollte, dass sie weiterging. Aber Mestre Emilio legte die Hand auf seinen Arm und sagte, Sofia müsse sich erst mal ausruhen.
Er hatte so etwas wohl schon öfter erlebt. Er begriff, dass Sofia erst jetzt verstanden hatte, was eigentlich passiert war, als die Mine explodierte.
»Heute üben wir nicht mehr«, sagte er. »Doktor Raul hat gesagt, dass du gern auf der Straße sitzt.« Sofia nickte. Sie hörte nur aus der Ferne, was er sagte. Sie dachte an das, was passiert war, das, was sie erst jetzt begriffen hatte. Eine Mine war explodiert. Sie hatte gespielt, sie hatte die Augen zugemacht, während sie lief.
Sie war auf die Mine getreten. Es war ihre Schuld, dass Maria tot war.
Innen drin war sie ganz kalt. Nur Monster brachten andere Menschen um.
Mestre Emilio rollte sie hinaus auf die Straße. »Benthino holt dich ab, wenn es Zeit ist, nach Hause zu fahren.
Bleib hier in der Sonne sitzen, damit dir wieder warm wird.«
Miranda war da. Und all die anderen Frauen. Aber Sofia wollte mit niemandem reden. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Sie wollte unsichtbar sein. So saß sie noch da, als Benthino sie abholte. Sie gab keine Antwort, als er fragte, warum sie unter der Decke saß. Als das Auto sie in das Altenheim gebracht hatte und Veronica sie in ihrem Stuhl zu ihrem Zimmer rollte, saß sie immer noch mit der Decke über dem Kopf da. Sie wollte nichts essen. Erst als sie sich in ihr Zimmer geschleppt und die Tür zugemacht hatte, zog sie sich die Decke vom Kopf. In ihr war es ganz leer, genauso leer wie in dem dunklen Zimmer, wo sie auf dem Fußboden saß.
Sie konnte nur eins denken, sie wollte nicht mehr leben. Es war ihre Schuld, dass Maria tot war.
Ich geh nie mehr von hier weg, dachte sie. Ich bleibe hier auf dem Boden sitzen, bis ich alt bin.
Es wurde Abend. Veronica brachte einen Teller mit Essen. Aber Sofia warf sich die Decke über den Kopf und gab keine Antwort, als Veronica fragte, ob sie nicht hungrig sei. Veronica ging und machte die Tür hinter sich zu. Sofia ließ die Decke über ihrem Kopf. Unbeweglich saß sie da und wartete darauf, dass sie alt wurde.
Die Tür wurde wieder geöffnet. Sie dachte, es wäre Veronica, die
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