Geheimnis des italienische Grafen
geküsst?
Langsam betrat Thalia den Salon und ließ die Tür hinter sich offen. Als ihre Röcke leise raschelten, wandte Marco sich zu ihr und schenkte ihr ein schwaches Lächeln.
„Von hier aus genießt du eine schöne Aussicht“, meinte er.
Sie ging zu ihm und blickte zum Crescent-Fields-Park hinüber. Um diese Tageszeit tummelten sich zahlreiche Leute auf der Straße, eilten zur Trinkhalle, zu den Thermalbädern oder ihren Geschäften. Auf dem Gehsteig, direkt unterhalb des Fensters, ließ ein kleines Kind einen Reifen dahinrollen, erstaunlicherweise nicht von einer Kinderfrau, sondern von seinem elegant gekleideten Vater betreut.
„Ja, ich schaue sehr gern hinaus“, sagte sie. „So viele Leute sehen wir vorbeigehen. Das ist angenehmer als die Trinkhalle mit ihrem lauten Stimmengewirr.“
Ein- oder zweimal hatte sie Marco mit Lady Riverton vorbeischlendern sehen. An diesem Morgen ließ sich die Frau nicht blicken. Auch am letzten Abend hatte sie auf seine Gesellschaft verzichtet.
„Mein Vater fand niemals Zeit, mit mir zu spielen“, bemerkte Marco leichthin und zeigte auf das Kind mit dem Reifen. „Als kleiner Junge durfte ich unseren Palazzo kaum verlassen. Meine Mutter fürchtete, draußen würden mir Zigeuner auflauern und mich entführen.“
Fasziniert von diesem flüchtigen Einblick hinter Marcos Fassade, lächelte Thalia ihn an. „Gab es denn so viele Zigeuner in Florenz?“
„Nur ein paar, da und dort. Sie interessierten mich. Doch sie hatten etwas Besseres zu tun, als einen verwöhnten kleinen Jungen zu stehlen. Zumindest fand ich das heraus, wann immer ich auf die Straße hinausschlich.“
Thalia lachte. „Irgendwie überrascht es mich nicht, dass du ein ungehorsames Kind warst, Marco. Zum Glück ist dir nichts Schlimmes passiert.“
„Dir etwa schon?“
„Mir? Wieso?“
„Komm schon, Thalia, bella . Ich wette, du hast in deiner Kindheit ständig Unfug getrieben.“
Sie entsann sich, wie sie im Teich beim Chase Lodge geschwommen war, obwohl man es ihr verboten hatte. Und sie dachte an den heimlichen Schluck Brandy, die erotischen Kupferstiche aus Pompeji. Die hatte ihr Vater sorgsam versteckt. Trotzdem war es ihr gelungen, sie ausgiebig zu betrachten. „Vielleicht ein bisschen, ein oder zwei Mal.“
„Nun, manche Dinge ändern sich nie.“
Krampfhaft schluckte sie und erinnerte sich an den „Unfug“ am vergangenen Abend. „Marco, die Party gestern …“
In diesem Moment wurde sie von zwei Dienstmädchen unterbrochen, die den Tee servierten, zierliches Porzellan, eine Silberkanne und eine Platte mit kleinen Kuchen und Sandwiches bereitstellten. Als Thalia wieder mit Marco allein war, wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
„Möchtest du eine Tasse Tee?“, fragte sie lahm und führte ihn zu dem komfortablen, mit korallenrotem Satin bezogenen Sofa.
„Grazie“, erwiderte er und nahm neben ihr Platz. In seiner unschicklichen Nähe spürte sie seine Wärme, roch seinen Duft, und die Erinnerung an den gestrigen Abend erhitzte ihr Blut.
Wie üblich musterte er sie mit unergründlichen dunklen Augen, als schien er alle ihre Gedanken zu lesen, alle ihre Wünsche zu erraten. Hastig beschäftigte sie sich, indem sie den Tee einschenkte. „Erzähl mir von deinem Vater. Lebt er noch?“
„Nein, leider verlor ich meine Eltern, als in Florenz vor vielen Jahren eine Fieberepidemie ausbrach.“
„Hast du keine Geschwister?“ Sie reichte ihm die gefüllte Tasse, und seine Finger streiften ihre Hand. Noch eine Erinnerung. Dieselben Finger – am letzten Abend auf ihren Brüsten …
Etwas zu schnell ließ sie die Tasse los, und ein bernsteinfarbener Tropfen fiel auf Marcos Hand, den sie mit einer Serviette wegwischte.
„Alle meine Geschwister starben schon bald nach ihrer Geburt“, erwiderte er in ruhigem Ton und schien ihre lächerliche Geschäftigkeit zu ignorieren. Dann entwand er die Serviette ihren verkrampften Fingern. „Vielleicht machte sich meine Mutter deshalb so große Sorgen um mich.“
Oder vielleicht hatte die arme Frau geahnt, welch ein Aufruhr entstehen würde, sobald man Marco auf die weibliche Bevölkerung von Florenz losließ.
„Wie traurig“, murmelte Thalia und nippte vorsichtig an ihrem Tee. „Manchmal ärgere ich mich maßlos über meine Schwestern. Aber ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun sollte.“
„So gern hätte ich in meiner Kindheit mit gleichgesinnten Geschwistern aufregende Abenteuer gesucht.“
Wehmütig lächelte Thalia.
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