Geheimnis des italienische Grafen
hatte. Trotzdem konnte sie die faszinierende Wirkung, die er auf sie ausübte, nicht bestreiten – diese wahnwitzige, berauschende Begierde, die sie unentrinnbar zu ihm hinzog.
O ja, in der Tat. Was Isabella empfand, verstand Thalia sehr gut.
Sie malte sich die Szenerie aus, ein Gemach in einem Turm des alten Schlosses. Im Hintergrund stand ein riesiges Bett mit roten Vorhängen. Eine versperrte Truhe enthielt ein unvorstellbares Grauen. Vor dem vergitterten Fenster glänzte ein bernsteinfarbener Vollmond. Wie ein Leitstern der Liebe leuchtete Isabellas weißes Nachthemd in den Schatten des Raums. Lockend streckte der Graf eine behandschuhte Hand aus …
Während Thalias Fantasie dieses Bild heraufbeschwor, verwandelte sich das Turmzimmer in einen Vorraum, warm und beengt im nächtlichen Dunkel. Darin hallten die Echos ihrer eigenen Atemzüge und ihres Stöhnens wider.
Thalia schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte, Tintentropfen befleckten das Manuskript. „Genug“, flüsterte sie. Fast die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und Marcos Kuss in Gedanken noch einmal erlebt, das Gefühl seiner Hand auf ihrer nackten Haut, seiner Taille, von ihren Beinen umfangen …
Mit solchen Erinnerungen löste sie das Problem nicht. Dadurch konnte sie die leidenschaftliche Umarmung weder ungeschehen machen noch ihre Gefühle verdrängen – den brennenden Wunsch, die Küsse und Liebkosungen zu wiederholen.
Isabella: „Oh, wie niederträchtig das alles ist! Warum musst du mich so quälen? Kennst du keine Gnade?“
Graf Orlando: „Jetzt bist du meine Gemahlin. In den Freuden des Ehebetts gibt es keine Qualen …“
Ein Klopfen an der Tür beendete den plötzlichen Wortschwall. Verwirrt blickte Thalia auf. Calliope und Cameron waren zur Trinkhalle gegangen und hatten sie in der kleinen Bibliothek allein gelassen. Im Haus müsste Ruhe herrschen – zumindest bis Psyche erwachen würde.
„Herein!“, rief Thalia und schob das Manuskript unter einige Briefe, die respektabler aussahen.
Der Butler trat ein. Auf dem Silbertablett in seiner Hand lag eine Visitenkarte. „Ein Besucher, Miss Chase.“
„Ein Besucher? Um diese frühe Stunde?“
Missbilligend hob er die Brauen. „Das habe ich erwähnt. Aber der Gentleman lässt sich nicht abweisen.“
Thalia stand auf, eilte um den Schreibtisch herum und griff nach der Karte. „Conte di Fabrizzi“ stand in kühnen schwarzen Lettern auf edlem cremefarbenem Büttenpapier. So wie sie es befürchtet – oder gehofft – hatte.
Die Stirn gerunzelt, starrte sie den Namen an, als könnte ihr Blick ihn irgendwie ändern und den Besucher in jemand anderen verwandeln. „Haben Sie ihm mitgeteilt, dass Lord und Lady Westwood nicht daheim sind?“
„Selbstverständlich, Miss Chase. Da erklärte der Gentleman, er wünsche mit Ihnen zu sprechen, und so führte ich ihn in den Salon. Aber ich könnte ihn wegschicken.“
Sie schüttelte den Kopf. Früher oder später musste sie diese Begegnung ohnehin hinter sich bringen. Und es war zweifellos besser, wenn es möglichst bald geschah.
Im Haus ihrer Schwester und ihres Schwagers, am helllichten Tag, drohte ihr wohl kaum die Gefahr, sie würde die Beherrschung verlieren. Am letzten Abend hatte es an der Dunkelheit gelegen, am Duft des Eau de Cologne, das Marco benutzte, an ihrem Zorn, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. Jetzt gehörte das alles der Vergangenheit an.
Nicht wahr?
„Also gut, ich werde den Conte empfangen.“ Sie warf die Visitenkarte auf den Schreibtisch. „Würden Sie uns bitte Tee servieren lassen?“
„Natürlich, Miss Chase“, antwortete der Butler, immer noch in geringschätzigem Ton.
Wenn der Butler oder ältere Schwestern ihr Verhalten missbilligt hatten, war Thalia niemals sonderlich beeindruckt gewesen. Ehe sie sich anders besinnen konnte, verließ sie die Bibliothek und folgte dem stillen Korridor.
Vor der halb geöffneten Salontür blieb sie stehen und spähte hindurch. Marco schaute durch das Fenster zur Straße hinab. Im Morgenlicht sah sie sein Profil. Das glänzende schwarze Haar war hinter die Ohren gebürstet, das Gesicht glatt rasiert, was seine prägnanten, attraktiven Züge noch hervorhob. Wie das Relief auf einer antiken Münze sah er aus, ernst und zeitlos – ein römischer Herrscher, Graf Orlando in seinem dunklen Turm.
Hatte dieser Mann sie wirklich in dem dunklen Vorraum umarmt, ihren Namen geflüstert, ihre Schulter und ihre Brüste liebkost – und sie so leidenschaftlich
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