Geheimnis um einen nächtlichen Brand
Jungen. „Einige hundert Jahre”, antwortete er. „Aber ich besitze noch ältere. Ich verbringe meine Zeit damit, sie zu entziffern – das heißt zu lesen. Aus solchen alten Dokumenten kann man eine Menge lernen.”
„Wie wunderbar!” sagte Rolf staunend. „Könnten Sie mir wohl ein paar von den Pergamenten zeigen?”
„Gewiß kann ich das.” Herr Rüchlein strahlte über das ganze Gesicht. „Komm nur herein. Die Seitenpforte wird wohl offen sein.”
„Darf meine Schwester mitkommen?” fragte Rolf. „Sie interessiert sich auch sehr für solche Sachen.”
„Was für ungewöhnliche Kinder!” dachte Herr Rüchlein, während Gina und Rolf zur Seitenpforte gingen. Sie traten ins Haus und wischten sich sorgfältig die Füße ab. Da tat sich eine Tür auf, und eine kleine Frau mit einem Vogelgesicht kam heraus. Als sie die Kinder erblickte, blieb sie überrascht stehen.
„Was wollt ihr hier?” fragte sie. „Dieses Haus gehört Herrn Rüchlein. Er gestattet niemand, es zu betreten.”
„Er hat uns aber gerade hereingebeten”, entgegnete Rolf.
„Hereingebeten?” Frau Miggel, Herrn Rüchleins Haushälterin, war maßlos erstaunt. „Aber er lädt niemals jemand ein – außer Herrn Schluck. Und seitdem die beiden sich entzweit haben, ist der auch nicht mehr hier gewesen.”
„Vielleicht ist Herr Rüchlein dann zu Herrn Schluck gegangen”, meinte Rolf, während er sich noch immer eifrig die Füße abwischte, um die Unterhaltung noch ein wenig zu verlängern.
„Nein, gewiß nicht!” erwiderte Frau Miggel bestimmt.
„Er hat mir selber gesagt, daß er nie wieder zu Herrn Schluck gehen wollte, weil der ihn so schrecklich angeschrien hat. Der gute alte Herr verdient es nicht, angeschrien zu werden. Er ist furchtbar zerstreut und manchmal etwas sonderlich, tut aber keiner Fliege etwas zu Leide.”
„Ging er nicht zu Herrn Schluck, als es dort brannte?” fragte Gina.
Frau Miggel schüttelte den Kopf. „Er machte wie jeden Tag so um sechs herum seinen Abendspaziergang und kam zurück, bevor das Feuer ausbrach.”
Gina und Rolf wechselten einen Blick. Herr Rüchlein war an dem Abend also ausgegangen. Hatte er sich vielleicht unbemerkt in Herrn Schlucks Garten geschlichen und das Haus angesteckt?
„Habt ihr das Feuer gesehen?” fragte Frau Miggel neugierig.
Aber die Kinder fanden keine Zeit mehr zu einer Antwort. Herr Rüchlein steckte den Kopf aus seinem Arbeitszimmer, um zu sehen, wo sie blieben. Sie gingen zu ihm hinein.
In dem Raum herrschte eine fürchterliche Unordnung. Überall lagen Bücher und Papiere. Die Wände waren mit Bücherregalen bedeckt, die fast bis zur Decke reichten.
Gina blickte sich entsetzt um. „Himmel! Wird hier denn niemals Ordnung gemacht? Man kann ja kaum gehen, ohne auf Papiere zu treten.”
„Ich habe Frau Miggel streng untersagt, dieses Zimmer aufzuräumen.” Herr Rüchlein rückte energisch seine Brille zurecht, die immer wieder auf seiner dünnen Nase abrutschte. „Seht mal, hier sind ein paar uralte Bücher. Sie sind auf Papierrollen geschrieben – im Jahre – im Jahre – Wartet mal, ich muß erst einmal nachsehen, in welchem Jahre. Ich wußte es ganz genau. Aber dieser Herr Schluck bringt mich ganz durcheinander, so daß ich alles vergesse.”
„Der Streit, den Sie vor ein paar Tagen mit ihm hatten, ist Ihnen wohl sehr nahegegangen”, sagte Gina mitleidig.
Herr Rüchlein nahm seine Brille ab, putzte sie und setzte sie wieder auf. „Ja, es war schrecklich. Ich liebe keine Streitigkeiten. Schluck ist ein kluger Mensch. Aber wenn ihm jemand widerspricht, wird er unausstehlich. Seht mal, dieses Dokument …”
Die Kinder hörten ein Weilchen geduldig zu, obwohl sie kein Wort von dem langen Vortrag verstanden, den Herr Rüchlein ihnen hielt. Der Gelehrte vergaß in seinem Eifer vollkommen, daß er zu Kindern sprach. Bald begannen sich die beiden herzlich zu langweilen. Als Herr Rüchlein sich zu einem Bücherregal umwandte, um ein neues Buch herauszuholen, flüsterte Rolf seiner Schwester zu: „Geh mal in die Diele und durchsuch den großen Schrank nach seinen Schuhen.”
Gina schlüpfte aus der Tür. Herr Rüchlein bemerkte gar nicht, daß sie das Zimmer verließ. Rolf dachte, es würde dem alten Mann nicht einmal auffallen, wenn er auch noch verschwände.
Gina öffnete den großen Schrank, der in der Diele stand, und kroch hinein. Er war voller Schuhe, Stiefel, Überschuhe, Stöcke und Mäntel. Rasch untersuchte sie die Schuhe. Sie hob
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