Geheimnis Um Mitternacht
nicht möglich, mich wenigstens bei meinem Namen zu nennen?"
„Das ist Ihr Name", erwiderte Irene.
„Nein, ist es nicht. Der Earl of Radbourne bin nicht ich. Es ist ein Titel, der überhaupt nichts mit dem, was und wer ich bin, zu tun hat." Seine Stimme klang kalt, als er sprach, und seine Züge wirkten wieder streng und hart, so wie sie es schon viel zu gut kannte. „Ich bin mein ganzes Leben lang Gideon gewesen."
Sie wusste, es schickte sich nicht, ihn bei seinem Rufnamen zu nennen. Schließlich kannten sie sich erst seit ein paar Tagen. Ihn Gideon zu nennen würde eine Vertrautheit zwischen ihnen schaffen, die nicht angemessen war.
Und doch sagte sie nach einem langen Moment: „Also gut, Gideon."
Sein Gesicht entspannte sich, und seine Hand drückte die ihre kurz etwas fester. Irene wandte den Blick ab. Sie fühlte sich, als würde sie unaufhaltsam einen rutschigen Abhang hinunterschliddern. Wie war die Situation nur so ihrer Kontrolle entglitten? Alles hatte damit angefangen, dass sie Gideon äußerst korrekt darauf hingewiesen hatte, dass er auf sehr ungehörige Weise mit ihr redete. Und irgendwie hatte das dazu geführt, dass sie zugestimmt hatte, ihn beim Vornamen zu nennen, was sie nicht einmal bei Männern tat, die sie ihr ganzes Leben lang kannte.
Sie war einfach nicht an so etwas gewöhnt - den Mann, die Situation, die Gefühle, die in ihr brodelten und zu den unpassendsten Momenten an die Oberfläche kamen. Irene wusste, dass sie den Ruf hatte, spröde zu sein. Es gab jene, die behaupteten, dass es mehr ihre unzugängliche Art als der Mangel an Mitgift war, die verhinderten, dass sie als junge Frau Anträge bekommen hatte. Doch es machte ihr nichts aus, wenn die Leute dachten, dass sie schwierig und spitzzüngig sei. Lieber das als eine alberne Gans, die kicherte und affektiert lächelte und mit Bewunderung zu jedem Mann aufsah, egal, wie dumm er war.
Lady Irene Wyngate war eben eine Frau, die selbstständig denken konnte. Sie war nicht leicht von etwas zu überzeugen, und sie fühlte sich nur selten verwirrt oder überrascht - vor allem nicht von sich selbst. Doch seit sie den Earl of Radbourne getroffen hatte, war das anders geworden. Sie hatte Gefühle, die ihr bisher unbekannt waren, und sich benommen, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Und mehr als einmal war sie in einen fürchterlichen Gefühlsaufruhr geraten. Sie empfand einen Verlust an Kontrolle, den sie noch nie zuvor erlebt hatte, und das Wissen darum erschreckte sie.
Als der Walzer endete und sie sich voneinander gelöst hatten, entfernte sich Irene einige Schritte von ihm. Sie wandte sich Francesca zu, die durch ihre Noten blätterte und einen anderen Walzer suchte.
Irene atmete tief ein und sagte: „Lady Francesca, ich denke, dass ich jetzt gerne ... aufhören würde, wenn es geht."
„Natürlich." Überrascht sah Francesca zu ihr hinüber. „Es tut mir leid. Sind Sie müde? Ich habe nicht nachgedacht.
Ich hätte nicht weiterspielen sollen."
Gideon runzelte die Stirn und ging auf Irene zu. „Ja, wir sollten einige Minuten Pause machen. Möchten Sie vielleicht ein wenig Tee?"
„Nein, ich bin nicht ...", fing Irene an, die abstreiten wollte, dass das Tanzen sie ermüdet hatte, hielt dann aber inne, weil er ihr unwissentlich das Stichwort gegeben hatte. „Das heißt, ja, vielleicht haben Sie recht. Aber ich brauche keinen Tee. Ich denke, dass ich hinauf in mein Zimmer gehen sollte. Ich ... ich habe ein wenig Kopfschmerzen."
Sie konnte Gideon nicht in die Augen sehen und wandte sich schnell an Francesca. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir vielleicht morgen weitermachen."
„Natürlich." Francesca lächelte und winkte mit einer Hand. „Ich bin mir sicher, Lord Radbourne wird mehr als erfreut sein, unseren Klauen für einen Nachmittag zu entkommen. Ich werde zu Lady Odelia gehen und die Pläne für die Gesellschaft durchgehen."
„Danke." Irene schenkte ihr ein verhaltenes Lächeln und flüchtete ohne einen weiteren Blick zu Gideon aus dem Raum.
Als sie sicher in ihrem Zimmer war, warf sie sich auf den Stuhl beim Fenster und verbrachte die nächsten Minuten damit, sich selbst als Feigling zu beschimpfen. Was war nur in sie gefahren, sich hier oben zu verstecken? Das war nur ein weiterer Beweis dafür, wie wenig sie sich wie sie selbst verhielt.
Sie gehörte nicht zu den Frauen, die sich der gesellschaftlich akzeptierten Ausrede von Kopfschmerzen bediente, wie sie es eben im Musikzimmer getan
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