Geheimnis Um Mitternacht
hatte. Sie flüchtete nicht vor Männern, weil sie sich nicht zu benehmen wussten. Noch viel weniger flüchtete sie, weil sie sich selbst nicht traute!
Irene trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des Sessels. Sie verstand nicht, warum dieser Mann sie auf diese spezielle Weise berührte. Aber sie würde nicht zulassen, dass das so weiterging. Sie musste zu ihrem alten Selbst zurückfinden.
Sie beschloss, einen langen Spaziergang zu machen - so wie sie es gerne machte, wenn sie auf dem Land war. Ein bisschen frische Luft und Bewegung würden ihr guttun und sie die Dinge klarer sehen lassen.
Entschlossen stand sie auf, zog die festen Stiefel an, die sie zum Laufen mitgebracht hatte, und setzte einen großkrempigen, flachen Strohhut auf, um ihr Gesicht vor der Sonne zu schützen. Eigentlich hätte sie sich umziehen müssen, damit der Saum des neuen Kleides, das sie trug, nicht schmutzig wurde, aber sie konnte nicht alle Knöpfe selbst öffnen und wollte nicht nach ihrer Zofe klingeln. Außerdem sollte niemand wissen, dass sie einen Spaziergang machen wollte, nachdem sie gerade Müdigkeit und Kopfschmerzen vorgetäuscht hatte.
Leise schlüpfte sie die Hintertreppe hinunter und durch eine Nebentür hinaus in den Garten. Sie hielt sich nicht lange bei den akkurat geharkten Kieswegen auf, sondern nahm den kürzesten Weg direkt zu der dahinter liegenden Wiese.
Nach kurzer Zeit kam sie an einen kleinen Pfad, der sich durch die leicht hügelige Landschaft wand. Sie war sich nicht sicher, wohin er führte, aber sie wandte sich in die Richtung, in der man sie vom Haus aus nicht mehr würde sehen können, und wanderte los.
Der Weg führte über eine kleine Hügelkuppe und bot eine schöne Aussicht über das Land. Vor sich konnte sie die Wiese liegen sehen, die sich bis zu einigen Bauernhöfen erstreckte, und in der Ferne die Hügel des Cotswold. Zu ihrer Rechten standen Bäume, und dann kam eine weitere leichte Hebung, auf deren Höhe ein alter viereckiger Steinturm und ein paar halb eingestürzte Mauern standen.
Das mussten die Überreste des alten normannischen Turms sein, von dem ihnen der Butler bei ihrer Ankunft erzählt hatte. Irene vermutete, dass sie es wohl wert sein könnten, später erkundet zu werden. Sie hielt für einen Moment an und beschattete die Augen mit einer Hand, um ihn zu betrachten.
Plötzlich hörte sie das Klirren von Zaumzeug hinter sich und das Geräusch von Hufen. Sie drehte sich um und sah einen Mann auf einem großen braunen Wallach auf sich zukommen. Ihr Magen zog sich zusammen.
Der Mann auf dem Pferderücken war Lord Radbourne. Also war sie tatsächlich bei ihrer kleinen Notlüge ertappt worden.
Für einen kurzen quälenden Moment dachte Irene darüber nach, sich einfach umzudrehen und wegzulau-fen, aber sie unterdrückte diesen Impuls sofort. Hatte sie nicht beschossen, stark zu sein und zu ihrem alten Selbst zurückzufinden? Sie würde diesem Problem so begegnen, wie sie es immer getan hatte: offen und direkt.
Sie richtete sich auf und sah zu, wie Gideon heranritt. Lady Odelia hatte Francesca gesagt, dass Gideon ein schlechter Reiter sei, aber Irene fand, dass er eine sehr gute Figur auf dem Pferderücken machte. Er hatte vielleicht nicht den exzellenten Sitz wie viele ihrer männlichen Bekannten, die von Kindesbeinen an auf einem Pferd gesessen hatten, aber diese Tatsache lenkte nicht von dem kraftvollen Eindruck ab, den er mit seinen breiten aufrechten Schultern, seinen großen behandschuhten Händen und seinen muskulösen Oberschenkeln vermittelte.
Irene schluckte und richtete sich noch weiter auf.
„Lady Irene", sagte Gideon, ein Lachen in seiner Stimme, als er den Hut zum Gruß hob. „Was für eine Überraschung, Sie hier zu treffen."
„Nun. Ich bin genauso überrascht, Sie zu sehen", erwiderte sie. „Sind Sie mir gefolgt?"
„Nein, ich dachte, sie lägen mit Kopfweh in Ihrem Schlafzimmer, falls Sie sich erinnern wollen", antwortete er und stieg ab. Er nahm die Zügel in eine Hand und führte das Pferd näher an sie heran. „Ich wollte ein oder zwei meiner Bauernhöfe besuchen, weil ich den Rest des Tages plötzlich frei hatte."
Da sie fühlte, dass eine Erklärung angebracht sei, sagte Irene: „Ich dachte, dass vielleicht ein Spaziergang an der frischen Luft meine Kopfschmerzen vertreiben würde."
„Ah, ich verstehe." Er nickte. „Dann werde ich einfach mit Ihnen gehen ... Es sei denn, Sie bevorzugen es, allein zu sein."
Der spitzbübische Glanz in seinen
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