Geheimnis Um Mitternacht
Irene. „Vielleicht ist deine Mutter gestorben. Du kannst dich nicht erinnern, was passiert ist - du warst zu jung. Nur weil ihr nicht entführt wurdet, heißt das nicht, dass sie dich im Stich gelassen hat. Warum hätte sie dich schließlich sonst mitgenommen, wenn sie dich nicht gewollt hätte? Es wäre viel einfacher gewesen, dich zurückzulassen. Man reist viel schneller ohne ein Kind, weil man dann nicht so auffällt. Und ihr muss klar gewesen sein, dass ein Mann wahrscheinlich eher seine Ehefrau verfolgt, wenn sie seinen Sohn und Erben mitnimmt." Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin davon überzeugt, dass sie dich mitnahm, weil sie es nicht ertrug, dich zurückzulassen. Sie muss dich sehr geliebt haben. Was auch immer sie für ihren Ehemann oder ihre Ehe oder diesen angeblichen Liebhaber empfunden hat, sie muss dich geliebt haben."
„Aber wie bin ich dann allein in London gelandet?"
„Das weiß ich nicht. Ich vermute, wir werden es nie erfahren", erwiderte Irene ehrlich. „Alles Mögliche könnte passiert sein. Vielleicht ist sie krank geworden und dort gestorben, und der Mann, mit dem sie reiste, ließ dich zurück. Oder vielleicht verließ er euch beide, und sie wurde dann krank und starb oder wurde dir auf eine andere Art genommen."
„Oder ihr Liebhaber war es einfach satt, einen Balg mit herumzuschleppen, und hat von ihr gefordert, den Jungen zurückzulassen. Sie hat ihren Ehemann betrogen. Sie hat ihren eigenen Namen besudelt. Warum sollte sie davor zurückschrecken, ein unbequemes Kind loszuwerden?"
Irenes Herz war schwer vor Mitleid für Gideon. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, zu erfahren, dass die eigene Mutter einen verlassen hatte. Trotz all der Jahre des Kummers mit ihrem Vater war sie sich doch wenigstens immer der Liebe ihrer Mutter sicher gewesen. Sie fragte sich, wie es wohl sein musste, nie eine verlässliche, anhaltende Liebe gekannt zu haben. Solange er zurückdenken konnte, war Gideon immer allein gewesen, hatte nie jemanden gehabt, auf den er sich verlassen oder dem er trauen konnte.
„Es tut mir so leid", murmelte sie, sich durchaus bewusst, wie unzulänglich ihre Worte waren. Sie wusste nicht, wie sie die Tiefe ihres Mitgefühls mitteilen konnte, und natürlich konnte sie auch nicht wirklich nachempfinden, was er fühlte.
Gideon zuckte mit den Schultern, sein Gesicht hart und gefühllos. „Diese Neuigkeiten ändern nichts in meinem Leben. Schließlich habe ich keine wirkliche Erinnerung an meine Mutter. Es ist nicht so, als ob mich jemand betrogen hat, den ich kennen würde."
„Das stimmt. Aber was du geglaubt hast, ist genauso wichtig wie das, an das du dich tatsächlich erinnerst. Du warst dir sicher, dass deine Mutter dich nicht verlassen hat, sonst hättest du dich bestimmt von ihr betrogen gefühlt."
„Was ich glaube, ändert nichts an den Fakten. Ich war damals allein, genau wie ich es jetzt bin."
„Nein, du bist nicht allein!", rief Irene, trat einen Schritt näher und legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie atmete ein, um ihm zu sagen, dass sie bei ihm war, aber dann wurde ihr im letzten Moment klar, dass sie sich damit zu einer Nähe bekannte, die es nicht gab. Sie war vielleicht jetzt hier bei ihm, aber das würde nicht andauern. Sie würde nicht als Ehefrau oder auch nur als Freund bei ihm bleiben, wenn diese zwei Wochen vorbei waren.
Ihre Hand fiel von seinem Arm, und sie wandte den Blick ab. „Das heißt... Ich meinte, Sie werden bald heiraten.
Sie werden die Gesellschaft und Unterstützung Ihrer Frau haben, also werden Sie nicht länger allein sein."
Er ließ ein kurzes, freudloses Lachen hören. „Eine Frau, die willens ist, im Austausch gegen Reichtum und einen Titel einen so verrufenen Mann wie mich zu heiraten. Irgendwie fällt es mir schwer zu glauben, dass es eine enge Beziehung sein wird."
„So muss es nicht sein", widersprach sie.
Gideon hob ungläubig eine Augenbraue. „Das können Sie nicht wirklich glauben. Das passt kaum zu Ihrer Weigerung zu heiraten. Wie kann ich Unterstützung und Freundschaft von einer Frau erwarten, die ich nach Ihrer Meinung tyrannisieren und misshandeln werde?"
„Ich glaube nicht, dass Sie Ihre Ehefrau tyrannisieren und misshandeln werden", erwiderte sie.
„Sie haben zumindest glaubhaft vorgegeben, dass Sie davon überzeugt sind."
„Nein, ich bin nur nicht bereit, mir das Leben zuzumuten, das ich führen müsste, falls ich mich doch irre. Aber ich bin nicht wie die meisten
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