Geheimnisse der Lebenskraft Chi
Ärzte, und Chi-Gong-Meister ist meistens nicht Arzt.«
»Wollen Sie denn nicht hereinkommen?« Unsere Gastgeberin steht im hell erleuchteten Türrahmen. »Hereinspaziert! Hereinspaziert!« Drinnen kommt gleich eine ältere Frau auf Dr. Chow zu und fragt ihn nach seinem Vornamen. »Xiue«, antwortet er, ausgesprochen wie der englische Vorname Sue. Die Frau fasst ihn am Arm und teilt ganz aufgeregt mit, sie habe
eine Tochter mit diesem Namen, ob das nicht ein unglaublicher Zufall sei. Dr. Chow pflichtet ihr bei, und sie lässt ihn wieder los, um jetzt Sues Leben vor uns abzuhaspeln, beginnend mit der Steißgeburt vor einundfünfzig Jahren.
Da drängt sich die Hand unserer Gastgeberin mit den schlimmen Knien zwischen uns und zieht den Doktor beiseite, nicht um ihn von endlosen Banalitäten zu erlösen, sondern um ihm das neueste medizinische Problem anzuvertrauen - eine Migräne. Dr. Chow führt sie zu einem Stuhl in der Ecke und hält seine Hände um ihren Kopf, und wahrhaftig, keine Minute später weicht die Migräne. Dann hat die Patientin aber doch noch ein weiteres Anliegen. Ob Dr. Chow wohl mal nach oben gehen könne, um sich ihre vierjährige Nichte anzusehen und dann etwas über ihre Zukunft zu sagen. Nein, könne er nicht.
»Warum denn nicht?«, fragt die Patientin. Solche Voraussagen macht er nicht, sagt er.
»Ach, es wäre so schön«, bettelt die Patientin. Er zeigt Verständnis, bleibt aber dabei, dass er Arzt und nicht Wahrsager ist.
Auf dem Heimweg werfe ich einen Blick neben mich und sehe, wie Dr. Chow die Fäuste ballt. Die Augen sind annähernd geschlossen, die Atembewegungen seiner Brust kaum wahrnehmbar. Als würde er meinen Blick spüren, öffnet er die Augen und sieht mich an. »So kann auch Chi erzeugen«, sagt er. »Machen Sie so, wenn normale Praxis nicht möglich ist.« Es mag die späte Stunde sein oder das viele Chi, das in mir wallt, vielleicht auch das Wissen, dass es solche Augenblicke irgendwann nicht mehr geben wird, jedenfalls sage ich ihm, was für ein großes Privileg es ist, sein Schüler zu sein. Er lacht fast ein wenig verlegen, tätschelt mir die Hand und erwidert etwas auf Chinesisch. Ich frage, was das heißt, und er sagt: »Peter guter Schüler.«
CHINESISCHES GEHIRN, CHINESISCHES GESICHT
Ich starre im Bad bestürzt mein Spiegelbild an. In Stirnnähe hat sich ein pechschwarzes, dickes Haar in meinen Blondschopf eingeschlichen. Im Sprechzimmer führe ich Dr. Chow den Eindringling vor, und er steht auch gleich auf, greift nach einer Schere, hält das schwarze Haar mit der einen Hand - und schnipp. »Das mein Haar«, sagt er zur Erklärung und fixiert es mit Klebeband auf einem Blatt Papier.
»Ihr Haar?«, frage ich. »Was macht Ihr Haar auf meinem Kopf?« Er lacht. Wenn er Chi aussendet, sagt er, ist das nicht nur seine Energie, sondern etwas Nährendes, und da es aus seinem Körper stammt, enthält es auch Information über seine Essenz. Ich solle zusehen, ob ich ein Labor finde, das dieses Haar mit denen auf seinem Kopf vergleichen kann. Damit nicht genug: Wenn ich ein Haar von ihm auf dem Kopf habe, bedeute das außerdem, dass mein Gehirn sein Chi aufnimmt, und in der Folge werde ich ein neues Gehirn bekommen.
»Ein neues Gehirn?« Es klingt beängstigend, aber ich muss auch lachen.
»Chinesisches Gehirn«, sagt er mit größter Selbstverständlichkeit. »Gute Hilfe für große Prüfung.« In seinem Chi, erläutert
er, sei die chinesische Denkweise verschlüsselt, und deshalb werde sich mein Gehirn mit der Zeit ändern. Ich danke ihm für sein sagenhaftes Chi, verschweige aber nicht, dass ich mit meinem westlichen Gehirn ganz einverstanden bin.
»Oh, westliches Gehirn geht nicht verloren. Chinesisches Gehirn kommt nur dazu.«
»Und wenn ich kein chinesisches Gehirn möchte?«
»Oh, das zu spät jetzt. Peter hat schon. Nicht gemerkt?« Und ob ich es gemerkt habe! Seit Wochen, seit Monaten eigentlich, stürzen die Ideen in wahren Böen der Inspiration auf mich ein. Da ich fürs Fernsehen schreibe, ist dieses neue flexible Gehirn höchst willkommen. Aber soll ich es Dr. Chows Chi zuschreiben?
»Immerhin mag ich jetzt Glückskekse«, sage ich. »Früher nicht.«
Dr. Chow streicht sich übers Kinn und bedenkt offenbar das Los dieses bescheidenen Gebäcks. »Das komischer Keks. In China man findet nicht. In Hongkong schon. Glückskeks ist westliche Erfindung. Inzwischen mögen manche Chinesen auch.« Er lehnt sich zurück, macht die Augen ganz schmal und sagt:
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