Geheimnisse der Lebenskraft Chi
funktioniert.«
Dr. Chow kommt aus dem Sprechzimmer, begrüßt uns und sagt mir, ich solle üben gehen. Bevor ich nach hinten gehe, sagt Joseph noch, dass er mir später noch seinen besonderen Meditationsplatz zeigen möchte. Einige Stunden später treten wir zusammen hinaus in die Sonne und schlagen den Weg zum nahe gelegenen Park ein. Unterwegs zeigt mir Joseph, wie er aus Sträuchern Energie zieht. Er fährt mit der Hand in einigen Zentimetern Entfernung über das Laub und reibt sich dann den Bauch. Dann beugt er sich zu einer Blume herunter, wölbt die Hände über die Blüte, ohne sie zu berühren, und streicht sich das gesammelte Chi aufs Gesicht. Im Park führt er mich zu einer gewaltigen Weide, deren Stamm einen Umfang von sicher gut sechs Metern hat. Er stellt sich mit leicht gebeugten Knien vor dem Baum auf, schließt die Augen und hält die Arme, als wollte er den Stamm umfassen, berührt ihn aber nicht.
Eine in einen Businessanzug gezwängte pummelige Frau macht interessiert halt, ihr Dackel ebenfalls. Ich lasse Joseph wissen, dass wir observiert werden, aber er bleibt ungerührt stehen, auch als der Dackel zu bellen beginnt. An seinem entrückten Gesichtsausdruck kann ich ablesen, dass er sich in einer anderen Welt aufhält. Plötzlich öffnet er die Augen und
fragt, ob ich es auch einmal probieren möchte. Die Frau steht noch an derselben Stelle. Ich widme ihr ein dünnes Lächeln, dann stelle ich mich auch vor den Baum und nehme Josephs Haltung ein. Ich spüre nicht gleich etwas, und Joseph fordert mich auf durchzuhalten. Nach ein paar Minuten entsteht eine seltsame Empfindung in den Armen, wie von Millionen krabbelnder Ameisen.
Ich sehe nach, aber es sind keine Ameisen vorhanden. Nur Chi krabbelt da, und so schließe ich die Augen wieder und hebe die Arme. Die Energie der Weide hat etwas Raues und Stachliges, und das ergibt zusammen mit meinem eigenen Chi eine Mixtur, die sich schwer und dicht durch meine Gliedmaßen bewegt. Nach zehn Minuten trete ich vom Stamm der Weide zurück und weiß nichts zu sagen, so groß ist mein Erstaunen.
»Jetzt versuch’s auf der anderen Seite«, schlägt Joseph vor. Die Rückseite des Baums liegt im Schatten, und als ich über die dicken Wurzeln steige, sehe ich die Frau mit ihrem Dackel abziehen. Sicher, denke ich, hat sie unsere kleine absonderliche Darbietung jetzt zwischen den unterhaltsamen Themen für das Gespräch beim Abendessen einsortiert. Ich nehme meine Haltung ein, und jetzt tritt die Energie des Baums langsam und dickflüssig in meine Arme ein. Ich berichte Joseph davon, und er sagt: »Ja, auf der Sonnenseite ist die Energie stärker.«
Er kommt fast jeden Tag in den Park. Dr. Chow, sagt er, kenne dieses Abziehen von Chi aus der Natur auch, habe aber noch nichts dazu gesagt, nur dass diese Technik in China von vielen Menschen angewandt wird. Joseph kannte sie aus alten illustrierten Manuskripten, die seine Eltern aus Shanghai mitgebracht hatten. In den meisten dieser Manuskripte, sagt er,
wurden Kiefern als besonders geeignet für die Chi-Gong-Praxis im Freien empfohlen, da die Nadeln regelrechte Chi-Leiter seien, aber in einem dieser Manuskripte war stattdessen von der Weide die Rede gewesen.
Am nächsten Abend kommt Joseph zu weiteren Chi-Experimenten zu mir nach Hause. Wir laden uns in verschiedenen Räumen auf und treffen uns dann im Wohnzimmer. Wir stellen uns einander gegenüber, die Handflächen gut zwanzig Zentimeter von denen des anderen entfernt. Langsam bewege ich meine Hände nach links und dann nach rechts, es hat etwas von der köstlichen Szene in I Love Lucy , in der Lucy jede Bewegung von Harpo Marx nachmacht, denn genauso folgt jetzt Joseph meinen Bewegungen - nur dass er die Augen geschlossen hält! Wir tauschen die Rollen, und wie sich zeigt, bin ich weniger sensibel als er, ich kann nur seine Grundbewegungen nachvollziehen. Das wirkt sehr ernüchternd. Wie soll ich so jemals durch die große Prüfung kommen?
Einen Tag vor seiner Abreise nach Los Angeles ruft Joseph an und sagt mit großer Dringlichkeit in der Stimme, wir müssten uns sofort treffen, es sei etwas ganz Unglaubliches passiert. Wir treffen uns am Eingang zum Park und gehen zusammen hinein. Er kann kaum mehr an sich halten. »Das war im Bus«, erzählt er. »Ich betrachte diese Frau, und plötzlich sehe ich ihr früheres Leben! Und dann ist auf einmal das Leben davor da! Und dann alle fünf Sekunden ein weiteres früheres Leben!« So etwas hat er noch nie erlebt,
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