Geheimnisse der Lebenskraft Chi
»Peter bekommt auch chinesisches Gesicht.«
Das geht zu weit. »Nein, Dr. Chow. Kein chinesisches Gesicht. Chinesisches Gehirn, meinetwegen, aber kein chinesisches Gesicht.«
»Sie mögen nicht chinesisches Gesicht?«
»Doch, an Ihnen schon.« Er klatscht sich aufs Knie und quiekst: »Freunde Peter nicht mehr kennen! Ich muss Chi zurücknehmen, damit Peters chinesisches Gesicht weggeht! So viel Arbeit ich mit Ihnen habe!« Er droht mir mit dem Finger.
Wenn ich ein Chinese werden muss, um sein Chi zu bekommen, sollte dann nicht auch eine Beschleunigung meiner Chi-Gong-Praxis drin sein? Ich stelle diese Frage, und zur Antwort greift er nach einer Topfpflanze, die am Fußboden ein kümmerliches Dasein fristet, und tut so, als wollte er sie aus ihrem Topf ziehen. »Wenn Sie wollen, dass Pflanze wächst, und machen so, dann Wurzel raus. Nicht gut.« Er lässt die Stimme in den Keller sinken, um seinen Worten das rechte Gewicht zu geben: »Am meisten wichtig ist Praxis mit vollem Einsatz und nicht auf schnelle Ergebnisse aus.«
»Soll ich dann besser zweimal am Tag in die Praxis kommen? Zur Vorbereitung auf die große Prüfung?«
Er schüttelt den Kopf. »Sicher, große Prüfung wichtig, aber noch wichtiger ist, dass Sie nicht zu sehr abhängig davon.« Dazu fällt mir gleich eine Passage aus dem Tao Te King ein, in der es heißt:Wenn die Menschen nicht mehr an sich selbst glauben, suchen sie Autoritätsfiguren. Daher tritt der Meister zurück, dass die Menschen nicht abhängig werden und verwirrt.
Plötzlich steht Dr. Chow auf und schickt mich zum Üben, wobei er überflüssigerweise auch noch in die Richtung zeigt. Auf dem Läufer im Gang höre ich seine Stimme, er singt, ein filigranes Trällern, das in der Luft zu schweben scheint. Mit der Chinesischen Oper kenne ich mich nicht aus, aber mit dieser Stimme, denke ich, wären ihm in der chinesischen Szene der große Ruhm und das große Geld sicher gewesen. Der Verstand des Doktors und seine Hände mögen wissenschaftlich sein, die Stimme in ihren Höhenflügen ist es nicht.
Als ich nach einer halben Stunde aus meinem Übungsraum komme, schiebt mich Dr. Chow sofort ins Bad, macht Licht und ruft ganz aus dem Häuschen: »Sehen Ihr Gesicht an!« Es
ist nicht das Gesicht, das ich heute Morgen gesehen habe, auch nicht das Gesicht, das mir draußen der alte Schneidereispiegel zeigte. Es ist auch kein chinesisches Gesicht, aber völlig verschieden von dem Gesicht, das ich kenne. Es ist ein Gesicht, in dem Jugend und Kraft schimmern. »Schnell nach Hause, Bild machen mit Kamera! Heute richtig viel Chi bekommen!«
Beim Verlassen der Praxis werfe ich noch einen Blick in das Fenster des Haarsalons nebenan. Da steht auf einem kleinen Holzständer ein jahrzehntealtes Foto eines Models aufgebockt, ihr Haar zu vollendetem Schwung frisiert, perfekte Zähne für alle Zeiten in einem perfekten Lächeln. Nur im falschen Fenster steht sie.
EIN GEIST
Mitternacht. Ich habe gerade meine Übung beendet, der Körper sprüht nur so. Im Bett falle ich fast augenblicklich in tiefen Schlaf. Gegen drei Uhr morgens gehe ich zur Toilette, und auf dem Rückweg geht mir durch den Kopf, dass Dr. Chow sicher ein großartiger Lehrer ist, aber wo mögen wohl die Grenzen seiner Fähigkeiten liegen? Nur so zum Spaß sende ich in seine Richtung: »Da Sie von so überragendem Können sind, Dr. Chow, wie wäre es, wenn Sie mir jetzt ein bisschen Chi senden würden?«
Noch bevor ich das Bett erreiche, fühle ich so etwas wie einen elektrischen Schlag. Ich stehe vollkommen still, das Gehirn wie abgeschaltet, aber das Herz rast, und jetzt ergießt sich ein Strom von Chi über Gesicht und Hals. Ich atme tief durch und versuche die Angelegenheit vom Verstand her zu verarbeiten. Kann es sein, dass jemand um drei Uhr früh einen Gedanken aufnimmt und dann auch noch mit einem Schwall von Energie beantwortet? Es ist so abwegig, dass ich schmunzeln muss und auch gleich die Schlagzeilen der Boulevardpresse an mir vorbeiziehen sehe:
TELEPATHISCHER CHI-GONG-MEISTER!
SCHÜLER MELDET TELEFON AB!
In der Praxis lasse ich Dr. Chow gegenüber am nächsten Tag beiläufig einfließen, dass ich in der Nacht überraschend beim Gedanken an ihn Chi empfangen hätte, aber er blickt nicht einmal vom Schreibtisch auf, sondern murmelt nur, ich solle zum Üben gehen. Ich bin erleichtert. Dann war es also doch kein Austausch zwischen Lehrer und Schüler mitten in der Nacht. Ich war drauf und dran gewesen, das wird mir jetzt
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