Geheimnisse der Lebenskraft Chi
und jetzt weiß er nicht, was er damit anfangen soll.
Ich frage, ob er diese Fähigkeit an mir demonstrieren könne, und er ist nur allzu bereit, es zu versuchen. Er fixiert ein paar Sekunden lang mein drittes Auge, dann wird sein Blick
glasig, und er fängt an, meine früheren Leben zu schildern, eines nach dem anderen, unglaublich schnell. In zwanzig meiner früheren Leben bin ich ein Mann, einmal auch Chinese, und in zwei Leben eine Frau. Joseph sagt, in meinem letzten Leben sei ich an Asthma gestorben. Ich bin wie vom Donner gerührt. Natürlich könnte es sein, dass er aus meiner Karteikarte in der Praxis von meinem Asthma weiß …
Als ich im Sprechzimmer mit Dr. Chow über Josephs neue Fähigkeiten spreche, lautet seine Antwort: »Braucht man Beweise.«
»Aber grundsätzlich«, frage ich weiter, »kann es sein, dass man durch Chi Gong diese Fähigkeit bekommt?«
»Gibt religiöses Chi Gong, da glauben sie das. Ich mache nur medizinisches Chi Gong.«
Ich würde aber doch gern wissen, was er wirklich glaubt und frage ihn, ob wir einander wohl schon in einem früheren Leben begegnet seien. »Nur dieses Leben wichtig«, sagt er und klopft an die Trennscheibe, um den nächsten Patienten ins Sprechzimmer zu rufen.
TANZ-CHI-GONG
Eine Patientin, eine Frau mittleren Alters mit Kniebeschwerden, hat Dr. Chow zum Tanz eingeladen. Er soll in einer dieser alten Legion Halls stattfinden, wie sie überall in Nordamerika nach wie vor in den Seitenstraßen größerer Städte zu finden sind. Zu meiner Verwunderung nimmt der Doktor die Einladung an, allerdings nur unter der Bedingung, dass ich mitkomme. Es kostet mich ein wenig Überwindung, diesem Einsatz als Verstärkung zuzustimmen, schließlich weiß ich nicht, was für protokollarische Anforderungen an einen Lehrling gestellt werden. Soll ich ihm beim Tanz Frauen zutreiben? Vertrauten Umgang mit ihm pflegen? Für leichtes Partygeplauder sorgen? »Diesen Artischockendip müssen Sie unbedingt probieren, Dr. Chow! Ein Gedicht, sage ich Ihnen.«
Der Tanzabend kommt, und Dr. Chow sitzt in meinem Wagen neben mir - lange Lederjacke, säuberlich gebügeltes weißes Hemd, graue Flanellhose, irgendwie bringt es mich ein wenig aus der Fassung, ihn anders als in der gewohnten Uniform zu sehen. Aufgeregt wie ein Teenager saugt er alles auf, was es zu sehen gibt, und macht mich auf alles Interessante aufmerksam. Ungewöhnlich gesprächig, erkundigt er sich, wie für mich die ideale Partnerin aussehen würde. Ich sage, sie
müsse intelligent, einfühlsam, körperlich anziehend und humorvoll sein, es müsse gemeinsame Interessen geben, und irgendeine Begabung solle sie haben.
»Begabung«, dehnt er. »Begabung nicht für jeden wichtig. Nur für Sie.«
»Ja, das nur für mich.«
»Und zwei wichtige Eigenschaften haben vergessen.«
»Welche denn?«
»Kann kochen - das ganz wichtig. Und muss sauber sein.«
Sauber sein und kochen können - wer würde das ausschlagen?
Da ist auch schon die Legion Hall. Der Türsteher hebt einen überaus kräftig wirkenden Arm wie eine Schranke und sagt, ich dürfe wegen meiner Jeans nicht hinein. In dem Augenblick taucht die Patientin mit den Kniebeschwerden auf. Sie tuschelt mit dem Rausschmeißer. Dann macht sie plötzlich kehrt und geht auf ein Telefonhäuschen zu. Fünf Minuten später fährt ein junger Mann vor und reicht eine braune Kordhose aus dem Fenster. Auf dem Rücksitz ziehe ich mich um. Oben herum ertrinke ich in lauter Hose, an den unteren Enden hat sie eher Caprihosen-Format. Jedenfalls ist es eine Hose mit angeborener Korrektheit, und als ich mich dem Türsteher erneut präsentiere, entspannen sich seine fleischigen Züge, und er winkt mich durch.
Aus konservatorischen Gründen oder weil sich niemand darum gekümmert hat, liegt im Saal noch der Linoleumboden aus den Fünfzigern mit seinem Streifenmuster, hier und da so abgetreten, dass schwarze Flecken hervortreten wie dicke Punkte von Ausrufezeichen. An langen Tischreihen sitzen die Leute in Trauben, rauchend und über ihre Plastikbecher hinweg plaudernd, während aus den Lautsprechern in den Ecken blechern Hank Williams’ Gitarre klingt.
Ich weiß nicht, ob dieses Tableau für Dr. Chow einen Kulturschock darstellt, für mich jedenfalls ist es einer. Die einzige weitere Person meiner Altersstufe ist die Tochter der Patientin mit den wehen Knien. Sie langweilt sich zu Tode und will gleich mit mir tanzen, bevor ich auch nur Platz genommen habe.Wir sind noch keine zwei Minuten
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