Geheimnisse der Lebenskraft Chi

klar, ihn mit Fähigkeiten auszustatten, die er gar nicht besitzt. Ich sortiere das Erlebnis der letzten Nacht unter lebhafte Fantasie ein, vielleicht lag es auch an etwas, das ich am Abend gegessen hatte. »Ein unverdauter Bissen Rindfleisch«, wie Scrooge in Eine Weihnachtsgeschichte sagt, »ein Klecks Senf, ein Brocken Käse, ein Stück halbgare Kartoffel.«
     
    Den größten Teil dieses Monats verbringe ich in der Metropolitan Public Library von Toronto, weil ich am Drehbuch zu einer Sendung über Schamanismus schreibe. Eines der Bücher, in denen ich recherchiere, handelt von den schamanistischen Praktiken der Lappen. Der Autor ist zwar nicht mit dem Begriff »Chi« vertraut, aber er schildert zum Beispiel, wie die Lappen ihre Kinder früher spielerisch mit Birkenzweigen geschlagen haben, um die darin enthaltene Lebenskraft auf sie zu übertragen. Irgendwann schleicht sich beim Lesen ein Gedanke in mein Hirn, der nichts mit dem Buch zu tun hat. Er präsentiert sich mit einem Akzent, den ich unschwer als Dr. Chows erkenne, und er besitzt eine gewisse Dringlichkeit: Peter früher in Praxis kommen!
    Eine undeutliche Regung im Körper begleitet diesen Gedanken, dann wende ich mich wieder meiner Lektüre zu, und er verschwindet im Hintergrund. Aber nach kaum fünf Minuten
taucht er wieder auf: Peter früher in Praxis kommen! Seltsam, was tut solch ein Gedanke in meinem Kopf? Die letzten Monate bin ich immer gegen halb sieben in die Praxis gegangen, wenn meine Arbeit getan ist. Und da um diese Zeit weniger Patienten da sind, hat Dr. Chow öfter ein wenig Zeit zum Plaudern. Ich dränge den Gedanken also wieder beiseite und lese weiter.
    Diesmal dauert es nur ein paar Sekunden, bis er wieder da ist. Das beunruhigt mich jetzt doch, und so lege ich ein Lesezeichen ein und versuche mich zu sammeln, doch mein ratternder Verstand lässt keine Sammlung zu, nur eine Frage:Was, wenn ich mir diese Aufforderung nicht einfach einbilde? Was, wenn doch seine große Meisterschaft dahintersteckt? Wie zur Antwort ist der Satz wieder da, nur diesmal in wirklich dringender Lautstärke. Peter früher in Praxis kommen! Das genügt, wirklich, ich geh ja schon.
    Als ich um halb fünf ankomme, ist im Wartezimmer kein Licht. Drinnen müssen sich meine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen, dann sehe ich Dr. Chow in der Tür zum Gang stehen, die Hände in den Kitteltaschen. Betont nonchalant lasse ich ihn wissen, ich hätte seine Botschaft erhalten, und hier sei ich nun. Er kommentiert weder meinen Unernst, noch bestätigt er irgendwelche Fernbotschaften. Seine Antwort ist sehr direkt und überraschend: »Gehen Sie drinnen Chi Gong üben. Praxis schließt heute früher.«
     
    Irgendwann in der Zukunft, wenn Telepathie nicht mehr allein die Domäne der Parapsychologen sein wird und man sie nicht mehr einfach als zufällig, als merkwürdiges Zusammentreffen hinstellt, sondern sie auch wissenschaftlich bestätigt ist, wird
ein Philosoph - vielleicht aus Kontinentaleuropa - laut darüber nachdenken, dass Telepathie doch eigentlich den Gedanken der Privatsphäre grundsätzlich infrage stellt.
    Was hat noch Wittgenstein über die Privatsprache in unserem Kopf gesagt? (Und wozu überhaupt Wittgenstein lesen, außer um ihn bei passender Gelegenheit einmal anzuführen?) Wittgenstein sagt, die Privatsprache in unserem Kopf hänge von der Öffentlichkeit, vom gesellschaftlichen Zusammenhang ab. Er sagt: Die Sprache in deinem Kopf ist gar nicht deine Sprache, sondern unsere Sprache, die uns allen gemeinsame Sprache. Das war Wittgensteins Einwand gegen den Solipsismus. Mir sagt dieser Einwand mehr: zu wissen, dass ein Mensch unmittelbaren Kontakt zum Geist eines anderen haben kann.

Wenn man eine Narrheit machen will, so muss man sie ganz machen.
    Shakespeare, Heinrich der Vierte , Zweiter Teil, zweiter Akt.
    KIERKEGAARD UND DIE STIMME
    Stellen Sie sich vor dem Haus Nummer 545 in der St. Clair Avenue West in Toronto auf und blicken Sie in die Höhe. Lassen Sie den Blick unscharf werden, die Lider halb geschlossen. Warten Sie ab, bis sich »Canada Chi Gong Health Clinic« in »Toronto School for the Magical Arts« verwandelt. In den Legenden von Schulen der Zauberkunst fliegen handgreifliche Dinge durch die Luft. Auch in der Schule von Toronto fliegen magische Dinge durch die Luft, doch die Magie tut darüber hinaus in einem selbst ihr Werk. Und wenn die siedend heiße Magie durch deine Meridiankabel brodelt und Lichtflocken durch den Körper stieben wie