GEHEIMNISSE DER NACHT
Spuren der Zeit zu überdecken.
„Lou wird deswegen stinkwütend auf mich sein, Maxine, aber …“ Lydia zog einen Umschlag aus dem schwarzen Aktenkoffer neben ihrem Stuhl und schob ihn über den Tisch. „Ich habe Kopien der Tatortfotos und vom Autopsiebericht, die entstanden sind, ehe das FBI den Fall übernommen hat.“
„Verdammt noch mal, Lydia, was zum Teufel …“
Lou brach ab, als Maxine anfing, den Umschlag zu öffnen, und Lydia eine Hand hob, um sie aufzuhalten. „Ich gehe mich erfrischen, dann haben Sie genug Zeit, sich alles anzusehen.“
Maxine hielt plötzlich inne. „Entschuldigung, ich habe nicht nachgedacht.“
„Schon in Ordnung. Na los, deshalb habe ich die Sachen schließlich mitgebracht.“ Sie stand auf, machte sich in Richtung der Gästetoiletten davon und verschwand aus Maxines Blickfeld.
„Du wusstest nicht, dass sie dieses Zeug hat?“, fragte Maxine, während sie die Dokumente und Fotos aus dem Umschlag holte.
„Nein, und ich habe auch keine Ahnung, wie sie es in die Finger bekommen hat. Die verfluchten Bundesagenten haben sich eingemischt, alle Beweise beschlagnahmt und alle unsere Kopien vernichtet.“
Maxine sah zu ihm auf. „Das haben die gemacht?“
„Ja. Einfach so. Irgendwas ist los, Max, aber ich weiß verdammt noch mal nicht, was. Müsste ich raten, ich würde sagen, es gibt einen Serienkiller mit der gleichen Vorgehensweise. Aber wenn du auch nur ein Wort davon sagst, streite ich es ab.“
„Gott sei Dank hält Big Brother die Öffentlichkeit so gut auf dem Laufenden“, murmelte sie. Sie legte den Stapel zurück auf den Tisch, drehte die oberste Seite um und starrte hinab auf eine Tatortaufnahme. Eine Frau, sehr groß und schlank, vielleicht Anfang vierzig, lag in einer Gasse auf dem Boden. Sie trug Khakis und einen dunkelgrünen Pullover mit V-Ausschnitt. Ihr helles braunes Haar war zu einem ordentlichen Knoten gesteckt.
„Kein Haar gekrümmt“, murmelte Maxine. „Sieh dir ihre Kleider an, Lou. Sie sind nicht schmutzig oder zerrissen. Ihr Make-up ist nicht einmal verschmiert.“
„Ich weiß.“
Ein Foto nach dem anderen schaute sie sich an, bis sie zu den Autopsiebildern gelangte, die wie Routineaufnahmen aussahen. Dann erblickte sie die Nahaufnahmen vom Hals der Toten. Zwei winzige Einstiche verunzierten dort die lilienweiße Haut. Wieder blätterte sie schnell weiter, bis sie den Autopsiebericht fand. „Die Frau ist an Blutverlust gestorben“, sagte sie zu Lou. „Hier steht, es verblieb nur noch eine unwahrscheinlich geringe Menge Blut in ihrem Körper, sie war aber nirgendwo verwundet. Keine Schnittwunde, keine Prellungen, keine inneren Blutungen, nichts – bis auf diese zwei Einstiche an ihrem Hals.“ Sie überflog die Seite und wendete sich dann wieder dem ersten Stapel Fotos zu, den sie schnell durchblätterte. „Und auch am Tatort kein Tropfen Blut.“
Sie sah auf und begegnete Lous Blick. Als sie Lydia bemerkte, die langsam wieder zurückkam, schob sie die Papiere und Fotos zurück in den Umschlag. Niemand sollte seine beste Freundin so sehen müssen.
„Und?“, fragte Lydia, als sie neben dem Tisch stehen blieb. „Was meinst du?“
„Kann ich die behalten?“, fragte Maxine und hob den Umschlag an. „Ich würde sie mir gerne genauer ansehen.“
„Natürlich. Ich habe Kopien gemacht. Aber … was meinen Sie, Maxine? Bin ich vollkommen verrückt, zu glauben, es könnte ein … ich meine …“
„Sie sind überhaupt nicht verrückt. Entweder, jemand hat sich alle Mühe gegeben, den Mord wie das Werk eines Vampirs aussehen zu lassen … oder es war wirklich einer.“
„Max …“ Lou sah aus, als wolle er sie erwürgen.
„Tut mir leid, Lou, aber mal ganz ehrlich, hast du etwa eine bessere Theorie?“
„Hunderte! Außerirdische wären eine bessere Theorie als das. Mensch, Max, ich habe dich hergebracht, damit du die Sache besser machst, und du machst alles nur noch schlimmer.“
„Schrei sie nicht an“, beschwor Lydia ihn. Ihre Stimme war sanft, aber fest. „Ich wollte eine ehrliche Meinung von ihr, und die hat sie mir gegeben, obwohl sie gewusst haben muss, dass du wütend auf sie wirst, Lou. Lass sie in Ruhe.“ Sie wendete sich an Maxine. „Was glauben Sie, was ich jetzt machen soll?“
Allein diese Frage ließ Maxine etwas größer werden. Lydia fragte sie um Rat, als wäre sie wichtig, jemand, dessen Meinung etwas zur Sache tat. Und das, merkte Maxine jetzt, war sie wirklich. Niemand konnte Lydia besser helfen
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