GEHEIMNISSE DER NACHT
aufzulecken, doch er entsagte. Gott allein wusste, er konnte genauso leicht ihre Kehle herausreißen.
Er bewegte sich leise, ohne jedes Geräusch, am Fußende des Bettes vorbei auf die Tür zu. Dann öffnete er sie und schlüpfte hinaus auf den dunklen Flur. Die Schlafzimmertür zog er hinter sich zu.
Plötzlich rissen die Nebel der Zeit vor ihm auf, und er war ganz still, als er ein Jahrhundert in die Vergangenheit zu blicken schien. Der Parkettfußboden glänzte wie neu versiegelt, er konnte den Lack riechen. Und die breite Treppe, die am Fuß noch breiter war als an ihrem Absatz, führte hinab in einen großen Raum, der genauso aussah, wie er es in Erinnerung hatte. Die gewölbte Kuppeldecke mit dem Kristalllüster. Die makellosen Holzarbeiten mit dem aufwendig geschnitzten Rand. Erst jetzt merkte er, wie ihm dieses Haus gefehlt hatte.
Während er die Treppe langsam hinunterging und seine Handfläche über das auf Hochglanz polierte Geländer gleiten ließ, bemerkte er einige Unterschiede. Es hingen andere Bilder an den Wänden. Der Kronleuchter war elektrisch und nicht mit Gas betrieben wie damals, zu seiner Zeit. Die Möbel waren anders. Oh, die Epoche hatte sie dennoch gut getroffen. Wie sie erraten hatte, dass er das ganze Haus mit abgewetzt aussehenden Repliken aus der Zeit der nordischen Invasion eingerichtet hatte, konnte er sich kaum vorstellen. Aber ihre Auswahl war fast identisch. Die Stühle sahen aus wie die Throne von Barbarenkönigen. Solide, viereckige Beine und Lehnen, die an den Enden mit Köpfen von Bären oder Löwen verziert waren. Dazu passend viereckige Tische und in den Ecken Granitsockel, auf denen Skulpturen von legendären Kriegern standen. Erik, der Rote, mit seinem gehörnten Helm. Eine muskelbepackte Walküre auf einem geflügelten Pferd.
Er hatte nicht genau die Gleichen ausgewählt. Aber dass sie sich für die gleiche Kultur, die Wikinger, entschieden hatte, konnte kein Zufall sein. Diese Frau kannte ihn. Das Zeitalter war damals sein Hobby gewesen. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er blickte auf die Flügeltüren aus dunklem Holz, die zu seinem Arbeitszimmer führten. Oder vielmehr, die es einst getan hatten. Es war sein Zufluchtsort gewesen. Sein Schutz vor der Welt.
Dante spürte Angst und musste sich überwinden, den Raum zu betreten. Er ging auf die Türen zu, packte die Messingknäufe, drehte sie und zog dann die Türen auf.
Vor ihm breitete sich sein Arbeitszimmer aus, als würde er wieder einen Blick in die Vergangenheit werfen. Der Kamin an der gegenüberliegenden Wand war in seinen Urzustand zurückversetzt worden. Der riesige antike Schreibtisch in der Ecke war nicht genau wie seiner, aber die Größe stimmte. Der Stuhl davor war modern, verständlich, und mit Rollen versehen, und der Computer, der auf dem Schreibtisch stand, schien überhaupt nicht in den Raum zu passen.
Vor einigen Stunden, als er in ihren Geist eingedrungen war, musste sie genau hier gesessen haben. Als er gespürt hatte, wie sie ihre Fantasien über ihn spann. Er hatte alles gespürt, was sie sich vorstellte, als wäre es echt gewesen.
Ehe er darüber noch länger nachdenken konnte, ergriff ihn eine Art Vorahnung, etwas, das ihn den Kopf herumschnellen ließ und seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.
Zeichnungen an den Wänden. Einige gerahmt, einige nur wahllos angepinnt. Lieber Gott, es waren Dutzende. Und sie waren alle … von ihm.
Dante starrte wie gebannt und ging gegen seinen Willen näher. Er betrachtete jede Linie, jede Schattierung und jeden Schatten, der die Konturen seines Gesichts bildete. Gedankenlos fuhr er dabei mit den Fingern über sein Kinn, seine Wangen und seinen Kiefer. Es war unnatürlich, sich selbst auf diese Weise betrachten zu können, wo er doch sein Spiegelbild schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Seit Jahrhunderten. War sein Gesicht so kantig? Waren seine Augen so tief liegend, so umschattet? Er sah regelrecht heimgesucht aus.
Woher kannte diese Frau ihn? Wie war das möglich?
Der Raum erschien ihm plötzlich zu klein und stickig. Er atmete einmal tief durch, dann noch einmal, doch er schien nicht genug Luft bekommen zu können. Wahrscheinlich der Schock, sich selbst so deutlich dargestellt zu sehen. Er öffnete jede Schublade, aber er fand keine Hinweise, und er betrachtete auch die Bücherregale, ohne etwas zu finden. Der Computer schien ihn zu verspotten. Er wusste nur sehr wenig über diese Maschinen. Seinen Inhalt zu durchsuchen würde
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