GEHEIMNISSE DER NACHT
einer Lichtung zwischen Bäumen, so wie wir es in unseren sterblichen Leben getan hatten. Ich glaube, am Anfang war es das, was Sarafina sich vorgestellt hatte. Eine Zweierbande – zwei Zigeunervampire, die so lebten wie zuvor. Es schien mir, als wollte sie alles Verlorene, ihre Familie, ihren Stamm, auf diese Weise wiedergewinnen. Aber das war natürlich unmöglich. Ich habe das lange vor ihr eingesehen.
„Die Auserwählten sind Menschen mit einer Verbindung zu uns. Irgendetwas in ihrem Blut“, sagte sie mir. „Wir wissen, wer sie sind, weil wir sie spüren können. Wir fühlen uns zu ihnen hingezogen und sie sich manchmal zu uns. Aber wir geben uns ihnen nicht zu erkennen, Dante. Das musst du um jeden Preis verstehen. Wir zeigen uns nicht.“
„Sie können Vampire werden. Wie wir“, gab ich zu bedenken.
„Das können sie. Und weißt du, was passiert, wenn sie es werden?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Sie verlieren den Verstand.“
Es klang wie ausgespuckt, als wäre es ein allgemeingültiger Fakt. „Alle?“, fragte ich, auch wenn ich es besser wusste. Ich hatte den Verstand nicht verloren, und Sarafina auch nicht.
Sie antwortete nicht darauf. „Einige werden so vergrämt, dass sie nicht mehr trinken, bis ihre Körper einschlafen und zu spröden Hüllen werden, die Jahrhunderte lang wie tot daliegen, ein Kerker für ihre Seelen. Andere werden durch ihre neuen vampirischen Kräfte übermütig und leisten sich die reinsten Mordorgien, bei denen so viele Leichen ihren Weg pflastern, dass die Sterblichen merken, was geschehen ist, und uns in ihrer Rachsucht wie Tiere jagen. Auch sie sterben. Wir bringen sie selber um. Uns bleibt nichts anderes übrig, wenn die Sterblichen uns nicht zuvorkommen.“
Wie gebannt hörte ich ihr zu.
„Manche öffnen sich einfach eine Ader und bluten aus. Wieder andere gehen absichtlich in ein Feuer wie dieses und lassen sich zu Asche verbrennen.“
Ich betrachtete sie eine ganze Weile. Wie das Feuer auf ihrem Gesicht und in ihren Augen tanzte. „Ich war einer der Auserwählten“, sagte ich, „du hast es in mir gespürt und mich verwandelt.“
„Ich hatte keine Wahl. Du wärest gestorben.“
„Du hattest eine Wahl. Du hättest mich sterben lassen können.“
Sie senkte ihren Blick und zuckte mit den Schultern, als hätten meine Worte keine große Bedeutung.
„Ich glaube, du hattest die ganze Zeit vor, mich zu verwandeln, Sarafina. Ich glaube, deshalb bist du zurück zur Familie gekommen und hast mich den anderen vorgezogen.“
Wieder ruhte ihr Blick auf mir, ihre Augen durchbohrten mich fast. „Vielleicht habe ich mir das gewünscht, Dante, aber ich hätte es niemals getan, ohne gut abzuwägen. Dieses Leben ist nicht einfach. Ich weiß, dass es dir im Augenblick so erscheinen muss, aber so ist es nicht.“
„Du meinst, dieses Leben erscheint mir einfach? Ich habe jeden verloren, den ich geliebt habe, Fina. Meine eigene Mutter, meine Familie, selbst meine Art zu leben. Alles, was ich kannte, wurde mir in jener Nacht entrissen. Es ist alles andere als einfach. Und doch habe ich nicht den Verstand verloren oder meinem Leben ein Ende bereitet.“
„Es wird noch viel schwerer werden.“
Darüber dachte ich einen Moment lang nach. Wie sicher sie klang. War sie so unglücklich? Ich begann zu merken, wie einsam sie in all den Jahren gewesen sein musste, ehe ich übergetreten war, um ihr in der Dunkelheit Gesellschaft zu leisten. „Die meisten Sterblichen ertragen den Schock der Verwandlung nicht. Den Verlust von allem, was sie ausgemacht hat. Selbst diejenigen, die sich anpassen und es akzeptieren, bestehen nicht alle. Hundert Jahre, vielleicht zweihundert, doch dann entfaltet sich das unsterbliche Leben vor ihnen, wie es wirklich ist. Ein Fluch genauso wie ein Segen. Ebenso Schmerz wie Vergnügen. Und auch sie entschließen sich oft, nicht weiterzumachen.“
„Und was ist mit denen, die es tun?“
Sie schwieg eine lange Weile. „Diejenigen, die weitermachen, müssen wohl einen Weg finden, mit dem, was sie sind, Frieden zu schließen. Sie hören auf, dagegen anzukämpfen. Sie hoffen nicht mehr auf eine Heilung, die sie wieder sterblich macht. Sie hören auf, nach dem Sinn dahinter zu suchen, ihre Existenz erklären zu wollen oder eine Berechtigung zu verlangen. Sie nehmen es einfach hin.“
„Bist du bereits an diesem Punkt angelangt?“, fragte ich sie.
Kopfschüttelnd betrachtete sie mich. „Nein. Aber ich habe diese Akzeptanz in den Augen einiger der
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