Geheimnisse des Himmels
Melora saß mit trübseligem Gesicht auf der Kante eines Bettes. Kaine lehnte lässig am Fenster und verzog keine Miene. Als die Tür aufging, stand sie abrupt auf.
„Fye!“, rief Melora und warf sich ihm um den Hals.
„Geht es dir gut?“
Er nickte nur.
Kaithlyn fasste kurz zusammen, was sie jetzt tun würden.
„Du denkst also, dass es in Ordnung geht?“, fragte Melora skeptisch.
Kaithlyn zuckte mit den Achseln.
„Ich würde euch so oder so hinterher alles berichten.“
Dieser Kommentar entlockte sowohl Kaithlyn selbst als auch Melora ein mattes Lächeln.
Raschen Schrittes durchquerte sie den Raum und ging auf Kaine zu, der keine Anstalt machte sich ihnen anzuschließen.
„Kaine“, sagte Kaithlyn auffordernd und als sein Blick sie taxierte, hielt sie ihm stand.
„Leibwächter sollten immer an der Seite ihrer Schutzbefohlenen sein“, sagte Melora süffisant, als hätte Kaithlyn Kaine gegenüber einen Befehl ausgesprochen.
„Bitte“, fügte Kaithlyn hinzu, um seinen Stolz zu wahren.
„Bitte begleite uns.“
„Woher kennst du den Weg zu Mr Karacords Büro? Das ganze Anwesen ist ein verdammter Irrgarten“, sagte Melora zu Fye.
„Er kennt ihn.“
Fye wies auf den Raben.
„Crowden hat ein unglaublich gutes Gedächtnis.“
Fye strich ihm über das pechschwarze Gefieder.
„Ich war schon ein Mal hier.“
Ein Rabe als lebendige Karte , dachte Kaithlyn erheitert. Sie standen nun vor einer mächtigen Ebenholztür. Fye griff nach einem runden Metallknauf und klopfte. Mit leisem Quietschen öffnete sich langsam eine Hälfte der riesigen Tür. Fye nickte Kaithlyn aufmunternd zu.
Sie trat als Erste ein.
Kaithlyn blieb für einen kurzen Moment an der Türzage stehen und atmete tief durch. Sie war sehr nervös und aufgeregt. Der Raum, der sich vor ihr erstreckte, war hell erleuchtet. An der Decke hing eine kunstvoll gearbeitete Kristalllampe, die das Licht in glitzernden Regenbogenfunken im Zimmer verteilte. Die Luft war stickig und lau, so als würde hier selten gelüftet werden. Edle Brokattapete ging in Holzvertäfelungen über. An der linken Wand hingen Landkarten und ein Sammelsurium anderer Zettel, darunter ein paar Zeitungsausschnitte und alte Fotos, die Kaithlyn sofort ins Auge fielen. Ein sperriger Schubladenschrank mit Eisengriffen, die wie Klauen aussahen, bedeckte fast die gesamte linke Wand. Der Boden war mit einem alten, dunklen, staubigen Teppich bedeckt. Ein breiter Schreibtisch aus Kirschholz, auf dem sich Türme aus Akten und Tintenfässern stapelten, nahm die Mitte des Raumes ein. Davor standen mehrere goldene Stühle und dahinter ein einziger großer schwarzer, drehbarer Stuhl, der mit der hohen Rückenlehne zu ihnen gewandt war, sodass Kaithlyn, das Gesicht des Mannes darin nicht sofort zu sehen bekam. Sie warf einen kurzen Blick hinter sich, um sich zu vergewissern, dass die anderen ihr folgten.
„Hallo, Kaithlyn“, brummte eine dunkle Stimme hinter dem hohen Stuhl.
„Der junge Mr Crossdale und –“
Der Stuhl drehte sich langsam zu ihnen, während die Stimme weiter sprach.
„- zwei weitere Besucher. Damit habe ich nicht gerechnet.“
Kaithlyn sah zum ersten Mal ihren Großvater.
Er war ein alter faltiger Mann, dessen graue Haare sehr kurz und dessen Bart sehr lang waren. Er hatte ein eckiges Gesicht, seine Haut war blass und seine Züge wurden von zwei hellen Augen dominiert, die aus schlüpfrigen Lidern hervor stachen. Er war schlank, fast ungesund dünn und der hohe Stuhl ließ seine Statur noch schmächtiger wirken. Diese gewöhnlichen Tatsachen wurden von seinen ausdruckstarken Blicken und Gesten wieder wettgemacht. Mr Karacord trug einen samtschwarzen Anzug, der sehr edel und protzig auf Kaithlyn wirkte. Er verkörperte den reichen alten Herrn, den sie sich vorgestellt hatte. Auf der linken Seite, in Brusthöhe seiner Aufmachung war das Familienwappen mit goldenem Garn eingestickt. Mr Karacord räusperte sich kurz.
„Bitte setzt euch.“
Er ließ die Augen über seine Besucher wandern; ungehalten und bohrend lasteten seine Blicke am längsten auf Kaithlyn, was sie nicht anders erwartet hatte. Er zeigte jedoch keine Regung, bis sie sich (gezwungenermaßen, weil kein anderer Platz mehr frei war) direkt vor ihn setzte und seine Lippen sich zu einem Lächeln kräuselten. Kaithlyn war so aufgeregt, das sie nervös mit den Fingern auf ihrem Knie herumtippte. Sie wich Mr Karacord nicht aus, aber angenehm war der lange Blickkontakt auch nicht. Er sah
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