Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs (German Edition)
Zeitung Photo, München (N.N.)
Diese psychologische Wirkung der vermeintlichen Stärke eines Alpen-Réduit hatte ungeahnte Folgen. Der Glaube an die Genialität dieser Vorgehensweise beeindruckte die Schweizer in einem Maße, dass sie ihre Verteidigungsstrategie für einen Exportschlager hielten. Als sich die militärische Situation Nazi-Deutschlands stetig verschlechterte, konnte es aus Sicht vieler Schweizer für die Deutschen nur einen logischen Ausweg geben: die Alpen als Rückzugsgebiet zu nutzen. So zerbrach sich die Schweizer Presse den Kopf der deutschen Führung und glaubte zu wissen, wie sich das »Dritte Reich« aus seiner immer aussichtsloser werdenden Situation zu befreien versuchen würde. Was sich dann bis ins Frühjahr 1945 in einer Vielzahl von Zeitungsartikeln niederschlug, wird von Historikern heute als »Réduit-Hysterie« eingeordnet.
Natürlich gab es auch skeptische Stimmen, explizite Warnungen und reale Belege, dass die Alpenfestung nicht existierte.
Christian Hallig, Unteroffizier der Wehrmacht, war zum deutschen Widerstand gestoßen. »Turicum« hieß eine lose Vereinigung von Hitler-Gegnern, die die Alliierten mit Informationen versorgten. Eine besondere Gelegenheit hatte der spätere ZDF -Redakteur Hallig, als er für die Heeresfilmstelle in den Alpen einen Propagandafilm drehen sollte. Dabei konnte er sich ein exaktes Bild vom Ausbaustand der angeblichen »Alpenfestung« machen. Im April erklärte er ungläubigen US -Offizieren: »Ich habe fast das gesamte Gebiet abgeklappert. Geschlossene Verbände sind nicht mehr vorhanden. Es fehlt an allem. Vor allem am Treibstoff.«
Sehr viel früher schon hatte der Vater des Réduit National Bedenken geäußert. Henri Guisan war von Anfang an skeptisch, dass eine deutsche Alpenfestung entstehen konnte. Er wusste, wie aufwändig es war, eine funktionierende Verteidigung in diesem Gelände zu schaffen. Sein vernichtendes Urteil: »Eine Festung lässt sich nicht improvisieren.« Der nüchterne Militärstratege verwies darauf, dass die Schweizer in Friedenszeiten zwei Jahre gebraucht hatten, ihre Pläne zu verwirklichen. Und die Deutschen sollten das nach fünf Kriegsjahren in wenigen Wochen zustande bringen? Man musste kein nationalstolzer Schweizer sein, um die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens zu erkennen.
Es fehlt den Deutschen nicht nur an Baumaterial und Arbeitskräften, sondern auch an der nötigen topographischen Beschaffenheit. In den deutschen Alpen gibt es zu viele breite Täler, und das Gebirge bietet nicht denselben Schutz vor Luftangriffen wie die Berge in der Schweiz.
Der Schweizer General Henri Guisan zu den Plänen einer deutschen »Alpenfestung«
Auch aufseiten der Alliierten fehlte es nicht an warnenden Stimmen. Vor allem die Briten waren misstrauisch. Es war auch der Konflikt unterschiedlicher Methoden der Nachrichtengewinnung. Die Amerikaner bevorzugten die HUMINT -Praxis, die Erkenntnisse aus menschlichen Quellen (Human Intelligence) gewann. Die Briten schöpften ihre nachrichtendienstlichen Erkenntnisse aus abgehörten Funksprüchen und anderen Primärquellen ( SIGINT – Signal Intelligence ). Nach Auswertung entsprechender Informationen kam der militärische Geheimdienst Seiner Majestät zu dem Ergebnis, dass die Deutschen in der zweiten Jahreshälfte 1944 gut befestigte Verteidigungsstellungen als »Alpenvorlandslinie« ausgebaut hatten. Die britischen Experten waren jedoch der Auffassung, dass es sich um »normale Verteidigungsaktivitäten« handelte. Erst im Frühjahr 1945 gab es auch beim MI -14 Vermutungen über die Existenz einer »Alpenfestung«. Da hatten die Briten deutsche Funksprüche mit entsprechenden Hitler-Anweisungen entschlüsselt. Doch auch dann überwog die Auffassung, dass es den Deutschen kaum möglich war, das angedrohte »Réduit« auszubauen. Eine Versorgung größerer Truppenkontingente wurde für unmöglich gehalten.
Auch US -General Eugene Harrison, Leiter des Nachrichtendienstes der 6. US -Armeegruppe, gehörte zu den Skeptikern. Er nannte die »Alpenfestung« »ein sehr dubioses National Redoubt«. Major General Kenneth Strong warnte seine Vorgesetzten im März 1945: »Keine einzige der vorliegenden Information konnte bestätigt werden.« Zu diesem Zeitpunkt hatte sogar Allen Welsh Dulles vorsichtig den Rückzug angetreten. Wie ein Zauberlehrling, der die Kräfte, die er gerufen hatte, nicht bändigen konnte, erklärte er Ende März 1945: »Verschiedene Faktoren und das Fehlen von
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