Geheimnisvoll wie der Orient
„Fahren Sie jetzt mit oder nicht?“
Ruhig bleiben, befahl sich Molly. Es ist nur eine kurze Autofahrt. Das war sie Tariq und Beatrice einfach schuldig. Sie würde die zwanzig Minuten schon irgendwie überleben.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
4. KAPITEL
Molly hatte noch nicht viel von der Hauptstadt gesehen und war nun überrascht über die große Zahl der öffentlichen Parks. Mit künstlicher Bewässerung hatte man grüne Rückzugsorte und Spielplätze für Kinder geschaffen.
„Sie dienen nicht nur der Erholung der Stadtbewohner“, klärte Tair sie auf. „Angelegte Gärten verhindern auch das Verwehen des Sandes.“
Sie ließen die City mit dem Königspalast und weiteren repräsentativen Gebäuden hinter sich. Dattelpalmen säumten die breiten Straßen und bildeten einen Baldachin aus grünen Blättern.
Allmählich wurde die Straße schmaler, und die Häuser rückten dichter zusammen. Im Erdgeschoss der meisten Gebäude befanden sich kleine Geschäfte, in denen reges Treiben herrschte. Im Gegensatz zur Innenstadt trugen die Menschen hier traditionelle Kleidung. Der Autoverkehr ließ nach, dafür sah man häufiger Eselskarren als Transportmittel.
Schließlich bog Tair von der Straße ab und fuhr eine Sandpiste entlang. Molly nahm an, dass es sich um eine Abkürzung handelte. Nach vierzigminütiger Fahrt verspürte sie ein leises Unbehagen. Hatte er sich verfahren?
Als sie durch ein tiefes Schlagloch rumpelten, stieß sie einen hohen Schrei aus.
Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Alles in Ordnung?“
„Nichts passiert.“
Tair konzentrierte sich wieder auf die Piste, und sie studierte heimlich sein Profil. Er wirkte nicht wie jemand, der sich verfahren hatte. Im Gegenteil, er schien genau zu wissen, was er tat. Andererseits gaben Männer es nicht gern zu, wenn ihnen ein Fehler unterlief. Und er war ein Mann durch und durch.
Sie hatten die Stadt nun hinter sich gelassen und befanden sich am Rand der Wüste. Zu beiden Seiten der Piste grasten Kamele und Ziegen, die sich von den wenigen Gräsern ernährten, die hier noch wuchsen. Hin und wieder kamen sie an einer Abzweigung vorbei, doch keine war beschildert.
„Ohne Navigationssystem ist man hier sicher verloren“, sagte sie beiläufig. Der Geländewagen besaß eines, allerdings hatte Tair es nicht eingeschaltet.
Er zuckte mit den breiten Schultern. „Ein Navi ist sicher ganz nützlich, wenn man sich in der Wüste nicht auskennt.“
„Und Sie kennen sich aus?“
„Natürlich, das liegt mir im Blut.“
Molly hätte eine Menge darauf erwidern können, doch sie zog es vor zu schweigen.
Tair schien ihre Skepsis nicht entgangen zu sein, denn er fuhr fort: „Meine Mutter kommt aus einem Beduinenstamm, mein Großvater ist der Scheich des Stammes.“
Ungläubig starrte sie ihn an und stellte sich vor, wie er wohl in den fließenden Gewändern der Wüstenbewohner aussehen mochte. „Führen die Beduinen denn noch immer ihr traditionelles Leben?“
„Das Leben in der Stammesgemeinschaft stirbt langsam aus.“
Seiner Miene konnte sie nicht entnehmen, ob er diese Entwicklung begrüßte oder bedauerte.
„Aber es gibt noch einige Beduinen wie meinen Großvater, die dieTradition aufrechterhalten.“
„Ihr Großvater lebt also noch?“
Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln und wirkte für einen Augenblick gar nicht mehr streng und abweisend. „Mein Großvater ist quicklebendig, aber meine Mutter starb, als ich noch ein Kind war.“
„Meine auch.“ Vermutlich ist das die einzige Gemeinsam keit, die wir besitzen.
„Haben Sie keine Verwandten?“
„Doch, einen Vater und zwei Stiefschwestern“, antwortete sie.
Über ihre Angehörigen schwieg sie besser. Molly wünschte, sie hätte ein unverfänglicheres Thema gewählt.
Wie wäre wohl seine Reaktion, wenn ich jetzt sagen wür de: „Übrigens, ich bin die Halbschwester von Tariq und Kha lid? Meine Mutter war mit König Hakim verheiratet, bevor sie sich scheiden ließ.“
Mit seinen blauen Augen betrachtete er sie prüfend. „Dann waren Sie als Kind sicher nicht einsam.“
Wollte er damit sagen, dass er sich oft allein gefühlt hatte? Wurden aus einsamen kleinen Jungen so selbstbewusste Männer wie er? Sie bezweifelte es. Dennoch tauchte in ihrer Vorstellung ein kleiner dunkelhaariger Junge mit traurigen blauen Augen auf, den sie am liebsten indie Arme geschlossen hätte.
Doch aus dem Kind war ein erwachsener Mann geworden, und sie sollte sich solchen Fantasien besser nicht
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