Geheimnisvolle Beruehrung
Dunkelheit war ebenso undurchdringlich wie Kalebs Blick, wenn er nicht wollte, dass man in ihn hineinsah. Hatte er recht? War seine Fähigkeit zum Mitgefühl durch den Albtraum seiner Kindheit zerstört worden? Sie mochte es nicht glauben, wollte lieber annehmen, dass sein Mitgefühl nur tief versteckt war, doch dann fiel ihr wieder ein, was Tatiana ihr zugefügt hatte, und mit schwerem Herzen machte sie sich klar, welche Wahl wohl ein verletzlicher Junge gehabt hatte, der überleben wollte … es blieb ihr nichts weiter übrig, als zu akzeptieren, dass Kaleb vielleicht doch die Wahrheit gesagt hatte.
Es war nicht leicht, mit dieser Erkenntnis fertigzuwerden, doch sie bemühte sich weiter, Erinnerungsfetzen aus dem Verlies zu holen … und plötzlich löste sich ein großes Stück.
Wieder ging sie durch den Park, die Bücher schlugen leicht gegen ihre Hüfte. Vor ihr fuhren zwei jüngere Schüler auf Fahrrädern, waren aber schon kurz darauf um die Ecke verschwunden. Sahara drehte sich um und fummelte an der Tasche, um sich mit einem Blick zu vergewissern, dass auch niemand hinter ihr war.
Der Weg war leer.
Sie ging weiter zu der einzigen Stelle, die auf diesem Weg nicht überwacht werden konnte, und schlug sich dann in die Büsche. Nach dreißig Sekunden stand sie unter den Bäumen. Niemand hätte es einen Wald genannt, doch man konnte sich dort verstecken. Und es lag außerhalb der Reichweite der Überwachungskameras.
Sie glaubte nicht, dass sich jemand ununterbrochen die Aufnahmen ansah. Die Kameras dienten hauptsächlich dazu, unsoziales Verhalten zu unterbinden. Falls aber doch einmal jemand misstrauisch werden sollte und ihr folgte, würde man nichts Verdächtiges entdecken. Sie würde eben auf einem anderen Weg zu Hause ankommen und so tun, als hätte sie sich spontan entschlossen, von der vorgeschlagenen Route abzuweichen. Man würde sie ernst über Sicherheit auf dem Nachhauseweg belehren, aber keine weiteren Konsequenzen ziehen.
»Wo bist du?«, flüsterte sie, als sie ihren Baum erreicht hatte. Wenn er sie nicht nach Hause brachte, blieben ihr nur elf Minuten, bis sie sich auf den Weg machen musste. In diesem Zeitraum würde sie niemand vermissen. Wenn er aber zu spät kam –
Doch da war er schon.
In der Nähe eines anderen Baums war er teleportiert und kam nun zu ihr. Aus seinen Augen strahlten die kardinalen Sterne, die sie in ihren Träumen sah. Er war groß und hatte den Körper eines jungen Mannes, nicht mehr den des Jungen, den sie ihr halbes Leben kannte. Er war härter als sie und auf eine Weise rücksichtslos, wie sie es nie sein könnte, was nichts damit zu tun hatte, dass er zweiundzwanzig und sie noch nicht einmal sechzehn war. Vor sechs Jahren war er auch schon so gewesen.
Doch an diesem Ort waren sie gleich, und unter der verstörenden Kälte, die sie nun schon oft an ihm bemerkt hatte, war er immer noch ihr Kaleb. Sein Silentium wirkte nach außen hin genauso rein wie ihres, doch dahinter verbarg sich ein Chaos von so heftigen Gefühlen, dass sie wusste, dass er sehr gefährlich werden könnte, sollte er je die Kontrolle verlieren. Aber nie für sie. Niemals.
Sie warf die Bücher auf den Boden und flog in seine Arme. Er drückte sie so fest an sich, dass sie kaum atmen konnte. »Schon gut«, flüsterte sie. »Schon gut.« Wieder und wieder sagte sie dieselben Worte, versuchte den Mann zu trösten, den sie so sehr liebte, dass man aus ihnen beiden zur Strafe für dieses Verbrechen lebende Toten machen konnte.
Doch sie wusste natürlich auch, dass es eben nicht gut war, dass der Grund für seinen Schmerz eine Falle war, der er nicht entkommen konnte – und ihr Kaleb war nicht für ein solches Gefängnis gemacht. Sie hatte Angst, dass er in seinem verzweifelten Kampf um Freiheit zu weit gehen könnte, und dass sie niemals wieder seine starken Arme um sich spüren würde. »Ich bin da, bin bei dir.«
Er hielt sie einfach nur fest, so wie er es in seinen schlimmsten Zeiten getan hatte. Sie musste keine Einzelheiten erfahren, um zu wissen, dass er noch härter und gnadenloser werden musste, um zu überleben. Wenn das so weiterging, würde Kaleb eines Tages hinter einer Wand aus schwarzem Eis verschwinden. Voll Zorn und Schmerz umarmte sie ihn noch fester, die verbotenen Gefühlen waren gut versteckt hinter Schilden, die Kaleb automatisch um sie gelegt hatte, um sie im Medialnet zu schützen. Das tat er schon seit Jahren, seitdem er erkannt hatte, dass ihr Silentium nicht hielt, er
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