Geheimnisvolle Beruehrung
nicht in die Schnelllernkurse in diesem Fach gehörte, doch die hatten auf ihren
IQ
verwiesen und gemeint, sie müsse sich nur mehr anstrengen. »Ha!«
Sie lächelte erleichtert, als Kaleb neben dem Baumstumpf auftauchte, auf dem sie immer ihre Hausaufgaben machte. »Bis Freitag muss ich das fertig haben«, sagte sie. »Sonst stecken sie mich nach der Schule in Mathe-Nachhilfe.« Die Nachhilfe schreckte sie nicht, wohl aber die Aussicht auf noch mehr Mathematik.
»Bitte.« Er setzte sich neben sie, ein verblassender blauer Fleck schimmerte unter dem linken Jochbein.
Sahara schlug mit den Hacken nach dem Baumstumpf, um nicht nach der Verletzung zu fragen, spürte den Schmerz auf der bloßen Haut. Sie wusste, was geschehen war, konnte nichts dagegen tun, und dieses Wissen fraß wie Säure in ihrem Inneren. »Was ist das?« Sie hielt die Wut mit aller Macht zurück, legte das Datenpad beiseite und nahm das Buch, das Kaleb ihr hinhielt.
»Du lernst besser, wenn du Dinge tust«, sagte er, als sie das Übungsbuch aufschlug. »Das könnte dir helfen, dir die Gleichungen besser zu merken.« Er griff in die Tasche und holte zwei Füller heraus.
»Warum sagst du mir nicht einfach die Lösungen?«, fragte sie strahlend. »Dann könnten wir danach viel interessantere Sachen besprechen.«
Kaleb sah sie nur mit den Sternenaugen an, die in letzter Zeit viel zu oft schwarz und leer waren, sodass ihr Herz davon schmerzte.
Seufzend, aber doch glücklich, weil er nicht wieder verschwunden war, nahm sie den blauen Füllhalter und machte sich an die Gleichungen auf der ersten Seite, wobei sie darauf achtete, jeden Schritt genau aufzuschreiben. Als sie fertig war, sah Kaleb die Arbeit durch und zeigte ihr, wo sie logische Fehler gemacht hatte, damit sie es beim nächsten Mal besser machen konnte.
»Kannst du die richtigen Schritte daneben schreiben?«, bat sie. »Ich kann sie dann bei den Hausaufgaben als Hilfestellung benutzen.« Ganz egal, was die Lehrer auch versuchten, Sahara lernte Mathematik in der Schule nie so gut wie mit Kaleb. Er wusste genau, wie er ihr etwas erklären musste.
Nun nickte er und schrieb es mit schwarzer Tinte auf. »Hattest du heute Tanzstunde?«
»Ja«, sagte sie und rannte auf die andere Seite des Hauses, um ins Arbeitszimmer ihres Vaters zu schauen. Er saß noch immer am Schreibtisch und arbeitete an einem Artikel für das Medizinjournal der M-Medialen. Lächelnd kam sie zurück. »Ich habe ein paar neue Schritte gelernt.« Sprudelnde Freude. »Willst du es sehen?«
Er schlug das Übungsbuch zu und nickte. Dann tanzte sie, während die Vögel wieder in ihre Nester flogen, und der Himmel sich dunkelorange färbte. Das Gras war weich unter ihren Füßen, und Kaleb war ihr stilles Publikum.
Sahara wurde es ganz warm bei dieser unschuldigen Erinnerung an das absolute Vertrauen zu dem Jungen, der dabei war, ein Mann zu werden, und der verstand, dass Tanzen für sie ebenso wichtig war wie Atmen. Ihre Freundschaft war durch nichts zu erschüttern gewesen und über die Jahre nur noch stärker geworden, doch Kaleb musste sehr vorsichtig sein – Enrique hielt ihn an der kurzen Leine. Doch je älter Kaleb wurde, desto leichter fiel es ihm, die Leine für kurze Momente abzustreifen.
Aber nur heimlich, alles musste heimlich geschehen.
Ohne Vorwarnung zog sich ihr Magen zusammen, spürte sie den Geschmack von Galle bitter auf der Zunge.
Sie taumelte aus dem Bett und schaffte es gerade noch ins Bad, bevor sie auf Hände und Knie fiel und sich erbrach. Zwerchfell und Hals schmerzten, so heftig musste sie würgen, ehe sie zitternd auf den Boden sank. Sobald sie sich wieder bewegen konnte, wischte sie den Boden, putzte sich die Zähne und duschte heiß. Dann wickelte sie sich in ein Handtuch und setzte sich wieder aufs Bett.
Wasser tropfte auf Hals und Brüste, doch sie kümmerte sich nicht darum, war mit ihren Gedanken noch immer bei den Erinnerungsfetzen. Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass das, was ihr an schlimmen Dingen zugestoßen sein mochte, irgendwie mit Kaleb zu tun gehabt hatte, doch noch sperrte ihr Kopf sich gegen die Erinnerung, obwohl sie krampfhaft danach suchte.
Es brachte nichts zum Vorschein, nur die Vorahnung einer weiteren qualvollen Zeit im Bad.
Ihr war natürlich bewusst, dass sie nicht erwarten konnte, sich an alles auf einmal zu erinnern, und nach zwanzig Minuten gab sie es auf, zog Unterwäsche, eine Jeans und einen azurblauen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt über,
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