Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
heraus.
»Ja, Missy?«, fragte er mit einem Bleistiftstummel zwischen den Zähnen. »Was gibt’s?«
»Die Teekanne im Fenster … «
»Die mit den blauen Vögeln?« Er schaute auf. »Ein ganz besonders hübsches Stück. Echte Qualität. So ein exzellentes Stück ham wir hier nicht oft. Bist ein schlaues Mädel.«
»Sie ähnelt sehr einer Teekanne, die meine Schwester neulich hier vorbeigebracht hat.«
»Ah ja?«, sagte er. Seine Lippen waren ganz violett von dem Blei.
»Ja, allerdings«, erwiderte Grace bestimmt.
»Und du willst mir jetzt vorwerfen, ich hätt ihr keinen fairen Preis gemacht?«
»Sie haben ihr überhaupt keinen Preis gemacht!«, sagte Grace. »Sie haben die Kanne fallen lassen, als sie sie Ihnen reichte.«
»Wenn was zu Bruch geht, ist das nicht Sache der Geschäftsführung«, brummte Morrell automatisch.
»Aber sie ist ja gar nicht zu Bruch gegangen«, sagte Grace. »Sie steht nämlich hier in Ihrem Schaufenster, auf einem eigenen Regal.«
»Das is ’ne andere!«, polterte Morrell.
»Ich habe schon von Leuten wie Ihnen gehört, die vorgeben, etwas sei zerbrochen, obwohl es gar nicht stimmt.«
»Ich sag dir aber, dass die Kanne da im Fenster nicht die ist, die du meinst«, erwiderte Morrell. »Das is ’ne andere. ’ne teure, aus echter Qualität. Genau.«
»Die Kanne in Ihrem Fenster ist die Teekanne meiner Mutter«, sagte Grace unbeirrt. »Und mein Bruder, der Anwaltsgehilfe ist«– dabei wedelte sie mit der Visitenkarte von Mr James Solent –, »lässt Ihnen ausrichten: Wenn Sie uns die Kanne nicht sofort zurückgeben, dann wird es eine gerichtliche Untersuchung in dieser Angelegenheit geben.«
Morrell warf einen Blick auf die Karte, woraufhin ihm die Kinnlade herunter- und der Bleistift aus dem Mundwinkel fiel. »Ach, nu mal halblang«, sagte er. »Gerichtliche Untersuchung. Das wird ja wohl nicht nötig sein.«
»Dann verlange ich, dass Sie mir die Kanne auf der Stelle zurückgeben!«, sagte Grace.
Zehn Minuten später waren Grace und Lily wieder zu Hause, und Grace stellte die Teekanne vorsichtig in die Kiste zurück. Die Hände zitterten ihr noch einwenig dabei, denn Morrell die Stirn zu bieten, hatte sie ihre ganze Kraft gekostet.
Im Pfandhaus hatte sie die Teekanne in ein paar Bogen Zeitungspapier von der Ladentheke gewickelt. Nun strich sie einen davon glatt. Zum Spaß und um ihrer Schwester zu zeigen, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war (denn im Grunde, so fand sie, war ja eine verlorengegangene und wiedergefundene Teekanne eine Nichtigkeit im Vergleich zu anderen Dingen), fing sie an, ein paar der Annoncen vorzulesen.
»Der Höhepunkt der Saison ist ein Besuch in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett mit einer lebensgroßen Figur des Mörders James Mullin, samt einer Nachbildung des schrecklichen Päckchens aus braunem Papier, dessen Entdeckung zu seiner Gefangennahme führte.«
»Würdest du dir das gerne ansehen?«, fragte Lily erschrocken.
»Nein, ganz und gar nicht«, versicherte ihr Grace. »Aber das hier würde ich gerne sehen:
Kapitän Greens seidener Ballon, täglich zu sehen im Kristallpalast. Bewundern Sie den Ballon, der schon von allen europäischen Großstädten aus in den Himmel stieg. Kapitän Green ist vor Ort, um sich Ihren Fragen zu stellen und Ihren Beifall entgegenzunehmen.
«
»Ein seidener Ballon?«, fragte Lily. »Wie groß ist der denn?«
»Ich glaube, er ist groß genug, um einen darunterhängenden Korb mit mehreren Leuten darin zu tragen.«
»Und die Leute schweben damit in die Luft hinauf?«
Grace nickte.
»Wie Vögel!«
»Genau, wie Vögel«, sagte Grace. »Oh, und es gibt hier mehrere Anzeigen für Hunde:
Gesellige, edle, niedliche Terrierhündchen. Ein perfekter Begleiter für eine Dame.
Ein nettes Hündchen hätte ich gerne. Du nicht, Lily?«
»Aber Hündchen muss man jeden Tag füttern«, gab Lily zu bedenken.
»Natürlich«, sagte Grace. »Dann also kein Hündchen für uns.« Sie überflog den Rest der Seite. »Eine ganze Reihe von Damen sucht nach einer Stellung als Gouvernante. Oh, und unter ›Personenanzeigen‹ wird eine Miss Caroline Thomas in einer höchst dringenden und delikaten Angelegenheit gesucht. Was das wohl sein mag?«
In Gedanken versunken, fuhr sie mit den Fingern ein kleines, sorgfältig ausgeschnittenes Rechteck am unteren Ende der Seite nach. »Schau nur«, sagte sie, »da hat jemand eine Anzeige ausgeschnitten, vermutlich, um darauf zu antworten. Was da wohl gestanden haben
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