Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Unwin, während sie ein Stoffmuster für einen Vorhang befühlte, der von dem neuen Marshall-and-Snellgrove-Geschäft geschickt worden war. »Ich dachte eigentlich, sie wäre dumm genug,
einfältig
genug, um alles zu glauben, was man ihr sagt. Ich habe sogar versprochen, ihr einen neuen Hut zu kaufen, wenn sie mit mir eine Runde ›So tun als ob‹ spielt. Sie sagte zwar, sie würde mitspielen, aber man kann sich einfach nicht auf sie verlassen.«
»Vielleicht stellt sie sich absichtlich so an«, sagte Charlotte. »Vielleicht würde sie sich ein wenig gefügiger zeigen, wenn sie ein paar Nächte in den Keller gesperrt würde.«
»Das bezweifle ich«, erwiderte Mrs Unwin. »So was funktioniert bei den Bediensteten heutzutage überhaupt nicht mehr. Mrs Ormsby hat es versucht, aber ihr Dienstmädchen hat sich, nachdem es wieder herausgelassen worden war, einfach davongemacht und fürchterliche Geschichten über sie erzählt.«
»Wie unverschämt!« Charlotte saß auf dem Sofa und trommelte mit den Absätzen auf den Boden. Sie wusste, dass sie sich kindisch benahm, aber sie wollte jetzt unbedingt endlich diese Kutsche. »Ich habe alles versucht!«
Mrs Unwin trat mit dem Stoffmuster ans Fenster, um es bei besserem Licht zu betrachten. »Hast du wenigstens herausgefunden, wie das Haus hieß, in dem sie gewohnt haben?«
»Nein, weil sie sich nicht mehr daran erinnern kann«, erwiderte Charlotte gereizt. »Aber ich weiß jetzt alles Erdenkliche über Brunnenkresse. Ich könnte schreien, wenn ich nur das Wort Brunnenkresse höre!«
Mrs Unwin legte widerwillig das Stoffmuster beiseite, da sie sich im Moment einfach nicht auf Farben konzentrieren konnte. »Nun«, sagte sie, »dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen, um sie zu überzeugen. Ich werde mit deinem Vater reden.«
Am folgenden Samstagnachmittag war Mr George Unwin als Erster an dem üblichen Treffpunkt im Barker’s Club. Er hatte inzwischen von Lilys Sturheit erfahren, doch ihm war auch keine Lösung für das Problem eingefallen, und so begrüßte er seinen Cousin mit gerunzelter Stirn und einem doppelten Whiskey.
»Wir stecken in der Klemme, Sly«, sagte er, kaum dass der andere Platz genommen hatte. »Das Mädchen macht Schwierigkeiten.«
»Welches Mädchen.«
»Das reiche Täubchen!«
»Ich dachte, sie ist in ihrem Käfig und lernt ihren Text.«
»Oh, fest unter Verschluss ist sie schon – aber sie ist zu einfältig, um die Rolle zu spielen, die wir ihr zugedacht haben. Oder nicht einfältig genug«, sagte er.
»Was soll das heißen?«
»Sie spielt einfach nicht mit. Wir reden ihr die ganze Zeit ein, dass wir sie schon vor Jahren adoptiert haben, aber sie widerspricht jedes Mal. Ich sage dir, der ganze Plan ist gefährdet.«
»Hmmm.« Sylvester Unwin kippte seinen Whiskey hinunter und dachte eine Weile nach.
»Weißt du, ich glaube, wir sollten diese Sache so schnell wie möglich vorantreiben«, fuhr George fort. »Es würde mich nicht wundern, wenn irgendwelche verdammten Gauner genau dasselbe im Schilde führen.«
»Ah, aber die haben das Mädchen nicht, nicht wahr?«
»Was auch immer das wert sein mag«, bemerkte George Unwin mutlos.
»Nein, die haben das Mädchen nicht«, überlegte Sylvester Unwin laut. »Also müssten sie sich einen Ersatz besorgen.«
George Unwin schaute ihn fragend an.
»Jemanden, der ihre Rolle übernimmt«, führte Sylvester Unwin aus. »Und dasselbe könnten wir auch tun.«
»Aber was machen wir mit der echten?«
»Irgendwo wegsperren.« Er lachte heiser. »Weißt du was, wir sperren die beiden Schwestern zusammen weg – vielleicht gibt’s fürs Doppelpack einen Sonderpreis.«
»Aber wir können doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts Leute verschwinden lassen.«
»Die Einfältige kann ja den Anfang machen – wir streuen einfach das Gerücht, sie sei weggelaufen. Das machen Dienstboten ständig. Und nach einer angemessenen Wartezeit lassen wir die andere verschwinden.«
»Hmm«, sagte George Unwin nachdenklich. »Könnte funktionieren. Aber woher bekommen wir unsere kleine Schauspielerin? Wir bräuchten ein Mädchen, das genauso alt ist und absolut vertrauenswürdig.«
Sylvester Unwin grinste. »Mein lieber Cousin, du brauchst nur in deinem eigenen Haus zu suchen.«
George Unwin starrte ihn an. »Du meinst …?«
»Ganz genau. Aber wir brauchen so viele Informationen von Lily, wie wir kriegen können: Beschreibungen, Daten, Einzelheiten über Ma und Pa – lauter
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