Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Straße angeworben hatte; dahinter der Bräutigam des toten Mädchens, die Familien, Freunde, Bedienstete, alle in tiefstem Schwarz und mit Trauerringen und schwarzen Lederhandschuhen, die der Vater der Toten als Beerdigungsgeschenke gestiftet hatte.
Die Trauerreden am Grab schienen kein Ende nehmen zu wollen, denn die beiden Priester – einer vonder Kirchengemeinde, in der das Mädchen aufgewachsen war, der andere ein alter Freund der Familie, der sie und ihren Zukünftigen hätte trauen sollen – schienen einander gegenseitig übertrumpfen zu wollen und konnten sich nicht darauf einigen, wer das letzte Wort haben sollte. Erst erging sich der eine in einer Rede über die Allmacht des Todes, dann konterte der andere mit einer Predigt über die Vergänglichkeit des Lebens. Als der Trauergottesdienst endlich zu Ende und ein üppig Maß an Tränen geflossen war, begaben sich die Trauernden in den Erfrischungsraum der ersten Klasse, um ein Stück von dem Kuchen zu verzehren und sich bei einem Schluck Brandy aufzuwärmen, so dass Grace ein wenig Zeit für sich blieb, bevor der Zug nach London zurückfuhr.
Sie ging geradewegs zum Grab von Susannah Solent und fand das Mausoleum vor, das der Vater, wie James Solent ihr damals erzählt hatte, in Auftrag gegeben hatte. Es war ein erhaben anmutendes Bauwerk im ägyptischen Stil, mit einem Pyramidendach, zwei Sphingen, die rechts und links vom Eingang Wache hielten, und glänzenden Türen aus gehämmertem Metall. Grace konnte es sich nicht verkneifen, durch das seitliche Fenster zu spähen, und entdeckte ein Bild von Königin Viktoria und Prinz Albert, einen Miniaturaltar mit einem Kreuz darüber und zwei mit gewirktem Stoff überzogene Gebetsstühle, wie man sie manchmal in Kirchen sah. Dazu gab es insgesamt acht Marmorplatten, von denen jede Platz für einenSarg bot, auch wenn momentan nur die unterste belegt war.
Beim Anblick von Susannah Solents Sarg und dem Gedanken an das, was er außerdem enthielt, fing Grace an zu weinen. Die Heftigkeit ihrer Trauer überraschte sie selbst. Sie weinte um ihr verstorbenes Kind, um das ganze Unglück ihres eigenen Lebens und darüber, dass sie von Lily getrennt war. Sie weinte, weil sie keine Zukunft für sich sehen konnte – oder nur eine, die von den Unwins regiert wurde, und diese absolut nicht die Art von Menschen waren, denen sie sich verpflichtet fühlen wollte. Vor allem aber weinte sie, weil sie das Gefühl hatte, ein falsches Leben zu leben, und nicht das, das sie sich selbst versprochen hatte.
Sie blieb stehen, bis sie ihre Tränen wieder unter Kontrolle hatte, sagte ihrem Kind noch ein stilles, trauriges Lebewohl und machte sich auf den Rückweg zum Bahnhof. Dort angekommen, sah sie eine fein gekleidete junge Dame auf dem Bahnsteig stehen und war höchst überrascht, als diese sie ansprach.
»Guten Morgen«, sagte Miss Charlotte Unwin, »und entschuldige, wenn ich so direkt frage, aber kanntest du Miss Solent?«
Grace, die diese Frage völlig unvorbereitet traf, hielt es für das Beste, sich nicht in eine Lüge zu verstricken, für den Fall, dass die junge Dame sie aushorchen wollte. »Nein. Nein, nicht persönlich«, gab sie zu.
»Aber – verzeih bitte – ich sah dich in tiefer Trauer an ihrem Mausoleum stehen.«
Graces Unruhe wuchs, und um Zeit zu schinden, rückte sie ihren Schleier zurecht. »Ich kannte sie zwar nicht persönlich, aber … aber ihre Mildtätigkeit war mir bekannt. Sie wurde doch Prinzessin der Armen genannt, nicht wahr?«, sagte Grace, sich an die Inschrift auf dem silbernen Namensschild erinnernd.
»Oh. Und du …?«
»Ich kam in die Gunst ihrer Hilfe«, sagte Grace. Was ja auch irgendwie stimmte, sagte sie sich. Sie betrachtete die junge Dame näher, die feinste und modischste Halbtrauer in Violett trug; ihr Mantel war aufwändig mit Rüschen und Borten verziert und mit einem weißen Pelzkragen besetzt.
»Entschuldigung, ich hätte mich vorstellen sollen, aber ich war so überrascht, dich hier zu treffen.« Sie lächelte. »Ich bin Miss Charlotte Unwin.«
Grace, die vollkommen verblüfft war und sofort überlegte, wie lange das Mädchen sie wohl schon beobachtet hatte, dachte erst mit einiger Verzögerung daran, zu knicksen.
»Ich bin heute mit meiner Mutter da.« Charlotte Unwin zögerte einen Moment und strengte sich ganz fest an, so freundlich und teilnahmsvoll wie möglich zu wirken. »Sie findet, ich sollte mehr über unser Geschäft erfahren, und wollte, dass ich eine unserer
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