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Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Titel: Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Hooper
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fuhr wieder an.
    Graces Herz schlug rasend schnell. Was für ein schönes, nobles Gesicht! Kein Wunder, dass man der Königin nachsagte, sie sei ganz vernarrt in ihn.
    Ein paar Tage später hatte Grace ihre schwarze Sargbegleiterinnen-Kluft anzulegen, um den großen Feierlichkeiten für den eher kleinen Aristokraten beizuwohnen, für den sie bereits so viel Arbeit geleistet hatte: den ehrenwerten Herrn William Wilkins-Boyes-Haig.
    Der seit kurzem in Mode gekommene Friedhof Kensal Green in der Nähe von Paddington war angelegt worden wie ein Park. Im Sommer konnten hier die Besucher auf gepflegten Wegen entlangspazieren, die Grabsteine und Statuen bewundern und die Gräber ihrer Verstorbenen besuchen. Grace traf mit drei weiteren Sargbegleiterinnen in einer geschlossenen Kutsche vor dem eigentlichen Leichenzug ein. Als sie in der Auffahrtsallee ausstieg, staunte sie über die prächtigen privaten Mausoleen und die vielen Steinskulpturen. Der Leichnam des ehrenwerten Adligen sollte allerdings nicht in einem Mausoleum, sondern in den Katakomben unter der großen Säulenkapelle beigesetzt werden, und so wurden die vier für die Trauerfeier gebuchten Sargbegleiterinnen von Mr   Unwin nach unten geführt und an verschiedenen Stellen des Gangs positioniert, durch den der Sarg mit demLeichnam zu seiner letzten Ruhestätte getragen würde. Grace stand an der letzten Station, neben dem Sockel, auf dem der Leichnam ruhen würde.
    Während des Wartens versuchte sie, sich nicht von der düsteren Atmosphäre der unterirdischen Gewölbe überwältigen zu lassen, doch das war gar nicht so leicht, denn das Einzige, was sie im Licht der Talgkerzen an der Wand sehen konnte, waren kleine viereckige Wandparzellen mit von Spinnweben überzogenen Eisengittern davor, in denen die Särge ruhten: Särge aus Kiefernholz, Mahagoni, Ulme und Rosenholz, manche mit Namensplaketten, manche ohne, manche mit goldenen Nägeln, manche mit Samt bedeckt und manche noch mit einem längst verwelkten Kranz aus Rosen darauf oder einer einzelnen modrigen Blüte. Mehrere der Särge zierte als Grabbeigabe ein geliebter Gegenstand aus dem Besitz des Verstorbenen: ein Spielzeug, eine Vase, ein schimmlig gewordenes Kissen. So viele Tote, dachte Grace melancholisch, und zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass es wohl sehr viel mehr Tote auf der Welt geben musste als Lebende.
    Zwei Stunden lang stand sie in der fast vollständigen Finsternis, ohne eine andere lebende Seele zu sehen, und kühlte von Minute zu Minute mehr aus, bis sie das Gefühl hatte, selbst zu einer Marmorstatue erstarrt zu sein. Da vernahm sie plötzlich ein höchst seltsames, unheimliches Geräusch, das den steinernen Gang herunterzukommen schien: ein eigenartigesleises Surren, das ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. (Erst später fand sie heraus, dass das Geräusch keineswegs übernatürlichen Ursprungs war, sondern dadurch entstand, dass der Sarg mittels eines Hydrauliksystems von der ebenerdigen Kapelle in die Tiefe der Katakomben hinunterbefördert wurde.)
    Eine Stille trat ein, dann folgte Stimmengemurmel und das schlurfende Geräusch zahlreicher Schritte auf Stein, und wenige Augenblicke später kam ein Geistlicher um die Ecke, gefolgt von acht Männern, die den riesigen Sarg des Adligen trugen. Sie gingen beinahe in die Knie unter der Last, denn da der Verstorbene mit einem ausgeprägten Sinn für seine eigene Bedeutung ausgestattet gewesen war, hatte er die Anweisung hinterlassen, in nicht weniger als vier Särgen beerdigt zu werden. Der innerste war aus Kiefer, dann kam Blei, dann Eiche und zuletzt edelstes Mahagoni. Jeder einzelne davon besaß eigene Schlösser, denn obendrein hatten den adligen Herrn zu Lebzeiten die Angst umgetrieben, sein Leichnam könnte dereinst von Grabräubern entwendet werden. Die Unwins waren diesen kostspieligen Wünschen natürlich nur zu gerne nachgekommen und hofften, dass andere dem Beispiel folgen würden. Vielleicht, so hatte Mrs   Unwin ihrem Mann gegenüber spekuliert, würde es ja Mode beim niederen Adel werden, sich in vier Särgen begraben zu lassen, und die beiden waren übereingekommen, diese Tatsache zu erwähnen, wann immer jemand ein teures Begräbnis plante.
    Grace wich einen Schritt zur Seite, damit die Sargträger das Eisengitter öffnen und den Sarg an seine letzte Ruhestätte schieben konnten. Im Anschluss daran sprach der Geistliche einen letzten Segen, die Mitglieder des Wilkins-Boyes-Haig-Familienclans verabschiedeten sich

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