Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
solche Sachen.«
»Schon unterwegs!«, sagte George Unwin begeistert. Wie üblich war seinem Cousin eine Lösung eingefallen. Allerdings würde er Charlotte wieder mit etwas bestechen müssen.
»Und, was gibt es sonst noch Neues?«, wollte Sylvester Unwin wissen.
»Ich habe einen gefiederten Dreispitz für dich!«
»Wozu um alles in der Welt sollte ich den brauchen?«
»Als ob du das nicht wüsstest! Als ob man dir nicht gesagt hätte, dass du binnen fünf Jahren Oberbürgermeister von London wirst!«
»Oberbürgermeister von London! Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest«, erwiderte Sylvester Unwin verschmitzt. »Wie käme ich denn zu dieser Ehre?«
»Ein führender Geschäftsmann, jedoch mit einersozialen, fürsorglichen Ader«, sagte George Unwin. »So stellst du dich doch nach außen hin dar?« Er zwinkerte mit einem Auge. »Und ganz besonders fürsorglich zu gefallenen Frauen, was?«
Der andere ging nicht darauf ein. »Wie dem auch sei, ich weiß schon, wem du den gefiederten Dreispitz geklaut hast. Ich war bei Welland-Scropes’ Beerdigung und habe ihn auf der Totenbahre vorbeiziehen sehen.«
»Du warst da? Ich habe dich nicht gesehen.«
»Ich kam ein wenig spät – hab mich am Schluss noch in die Kirche geschlichen und in die letzte Bank gesetzt. Kannte den Mann zwar nicht persönlich, aber … «
»Aber auf so einer Beerdigung will man gesehen werden, nicht wahr?«
»Wohl, wohl«, sagte Sylvester Unwin. »Und, ja doch, heb mir den Dreispitz auf. Nur für den Fall.«
»Sind Sie Mrs Macready?«, fragte die Frau. Sie war mager und presste sich die Hände auf den Bauch, als ob sie Schmerzen hätte.
»Wer möchte das wissen?«
»Sie kennen mich nicht, aber ich versichere Ihnen, dass ich nichts Böses gegen Sie oder irgendjemand anderen im Sinn habe, Madam.«
Mrs Macready taute ein wenig auf. Sie mochte es, wenn man sie mit »Madam« anredete. »Na gut. Ja, ich bin Mrs Macready.«
»Und Sie hatten bis vor kurzem ein Mietshaus in Seven Dials?«
»Ja. Ein sehr respektables und rechtschaffenes Haus.« Sie seufzte. »Jetzt haben sie es abgerissen.«
»Genau. Das hat man mir gesagt. Zwei junge Mädchen – Schwestern – hatten bei Ihnen ein Zimmer.«
Mrs Macready nickte. »Ich weiß, wen Sie meinen: Grace und Lily. Reizende Mädchen, die beiden. Eine war von etwas schlichtem Gemüt, aber ihre Schwester hat sich rührend um sie gekümmert. Rotbraune Locken und so ein ernstes Gesicht … eine richtige Schönheit war sie.«
»Genau dieses Mädchen ist’s, das ich suche. Hätten Sie wohl irgendeine Ahnung, wo ich sie finden kann?«
Mrs Macready schüttelte den Kopf. »Nicht die leiseste, meine Liebe.« Sie überlegte einen Moment. »Die beiden haben Brunnenkresse verkauft. Haben Sie es schon morgens auf dem Farringdon Markt versucht?«
»Das habe ich«, antwortete die Frau und nickte. »Aber seit Monaten hat sie da keiner mehr gesehen.« Ein Ausdruck tiefer Enttäuschung glitt über ihr Gesicht. »Sie waren meine letzte Hoffnung. Meinen Sie, es besteht vielleicht irgendeine Chance, dass Sie die beiden wiedersehen?«
»Nun, eine Chance besteht wohl immer oder nicht?«, erwiderte Mrs Macready in einem Ton, der das Gegenteil zu behaupten schien.
»Falls ja, wären Sie so freundlich, ihr auszurichten, dass Mrs Smith sie dringend sprechen möchte?«
»
Mrs Smith?
«, fragte Mrs Macready nach und zog eine Augenbraue hoch.
»Unter diesem Namen hat sie mich kennengelernt. Ich wohne im Tamarind Cottage in der Sydney Street, zusammen mit meiner Tochter. Können Sie sich das merken?«
»Natürlich kann ich das.« Mrs Macready zögerte einen Augenblick, dann fügte sie hinzu: »Aber Sie sehen ganz mitgenommen aus, meine Liebe. Möchten Sie einen Augenblick hereinkommen und sich ausruhen?«
Mrs Smith schüttelte den Kopf. »Es geht schon. Aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Adresse niederschreiben könnten, nur für den Fall.«
»Tamarind Cottage in der Sydney Street. Ich werde meinen Sohn bitten, es zu notieren, gleich, wenn ich reingehe«, versprach Mrs Macready und sah der Frau nach, wie sie gebeugt und mit langsamen Schritten die Straße hinunter verschwand.
STEH, WANDERSMANN, UND HÖRE AN,
WAS DIR DIE TOTEN SAGEN,
PACK EIN DEIN SACH, FEIN ALLGEMACH,
DU FOLGST IN ETLICHEN TAGEN.
Grabinschrift
Kapitel 18
Als das Arbeiterkontingent des Unwin-Bestattungsunternehmens am frühen Morgen am Waterloo-Nekropolis-Bahnhof eintraf,
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